Griff nach der Souveränität

„Jetzt schlägt die Stunde der europäischen Souveränität.“ Das sagte EU-Kommissionschef Juncker bei seiner letzten großen Rede in Straßburg. Doch seine Vorschläge für eine „weltpolitikfähige“ Union  können nicht überzeugen.

Juncker goes global – damit hatte wohl niemand gerechnet. Denn in der strengen Brüsseler Hackordnung sind andere für die Außenpolitik und das große Ganze zuständig.

Ratspräsident Tusk und die EU-Außenbeauftragte Mogherini sollen sich um Europas Rolle in der Welt kümmern. „Global Europe“ – das hieß bisher vor allem, wettbewerbsfähig zu werden und neue Märkte zu erobern.

Und nun das. Plötzlich redet Juncker wie eine Kreuzung aus Merkel und Macron. „Es ist an der Zeit, dass Europa sein Schicksal selbst in die Hand nimmt“, sagt er im Merkel-Duktus.

Von „Souveränität“ spricht er fast so locker wie Macron. Die Menschen in der EU hätten erstmals verstanden, was Geopolitik bedeutet, begründet ein Juncker-Vertrauter den überraschenden Vorstoß.

Die Streitigkeiten mit US-Präsident Donald Trump, die wachsenden Spannungen mit Russland, der Krieg in Syrien – all das habe den Europäern die Augen geöffnet.

Eine steile These auf einem Kontinent, der zwei Weltkriege erlebt hat und mehr als jeder andere Teil der Welt von Großmachtansprüchen und Geopolitik geprägt wurde. Auch die Lösungen, die Juncker anbietet, muten erstaunlich an.

Die Einstimmigkeit soll fallen

Damit die EU schneller auf Kriege und Krisen reagieren kann, soll das Prinzip der Einstimmigkeit in der Außenpolitik fallen. Beschlüsse im Ministerrat sollen künftig mit qualifizierter Mehrheit fallen, damit nicht ein einziger Quertreiber die gesamte EU blockieren kann. Diese Forderung, die neuerdings auch Außenminister Maas erhebt, ist ebenso alt wie banal. 

Aber sie löst die Probleme nicht. Beim Krieg in Syrien oder in der Nahost-Krise wird die EU nicht durch die Einstimmigkeit behindert – sondern dadurch, dass sie entweder keine Politik hat (Syrien), oder zu langsam auf eine neue Lage reagiert (Nahost).

Noch Anfang der 2000-er Jahre gab die EU in der Nahost-Politik den Ton an, nun wird sie von den USA und Israel an den Rand gedrängt. Wer dies ändern will, muß den USA, Israel – oder im Falle Syriens – Russland die Stirn bieten. Doch dazu reichen die Machtinstrumente nicht aus.

Einen europäischen Souverän gibt es nicht

Die EU ist ja nicht einmal in der Lage, das von ihr angestoßene Atomabkommen mit Iran gegen Sanktionen aus Washington zu verteidigen. Das „Blocking Statute“, das den US-Strafen die Spitze nehmen soll, hat sich als stumpfes Schwert erwiesen.

Doch dazu sagte Juncker nichts. Er schwieg auch zu der Frage, in wessen Namen „europäische Souveränität“ ausgeübt werden soll. Dabei ist das ein zentrales Problem. Denn einen „europäischen Souverän“ gibt es nicht.

Wenn die EU an seine Stelle treten will, braucht sie entweder ein überwältigend starkes Mandat – Stichwort  Volksabstimmung – oder die Unterstützung aller souveränen Mitgliedstaaten.

Kleine EU-Länder sollen Macht abgeben

Die Abschaffung der Einstimmigkeit passt – selbst wenn sie zunächst auf einige wenige Themen beschränkt werden soll – schlecht in dieses Bild. Denn sie bedeutet ja, dass künftig EU-Mitglieder in der Außenpolitik überstimmt werden können, womit sie ihre Souveränität in diesem lebenswichtigen Politikfeld verlieren.

Dagegen regt sich jetzt schon Widerstand, vor allem in kleinen EU-Staaten. Juncker hat in ein Wespennest gestoßen. Sein Vorstoß könnte die Union weiter spalten – dabei liegt doch in der Einheit die Kraft, wie Juncker selbst betonte.

Zudem liefert er all jenen Munition frei Haus, die sich gegen einen weiteren Machtzuwachs für Brüssel sträuben.

Junckers Pläne hätten einen hohen Preis

Die EU ziehe immer mehr Kompetenzen an sich, ohne auch die Mittel zur Verfügung zu stellen, die nötig wären, um die Probleme zu lösen – diesen Vorwurf erheben nicht nur Populisten, sondern auch Politikwissenschaftler.

Wer die Union „weltpolitikfähig“ machen will, muss eben auch die entsprechenden Ressourcen bereitstellen. Eine EU-Armee, ein Euro-Budget, eine europäische Regierung – all das wird nötig sein, wenn Europa tatsächlich zur Weltmacht aufsteigen will.

Doch bisher scheint nur Frankreich bereit, diesen hohen Preis zu zahlen. Merkel und Juncker fordern mehr, als sie selbst zu leisten bereit wären…