Finale Fantasien

Ich bin klein mein Herz ist rein!

Was haben Sarrazin, Grass und Lagarde gemeinsam? Alle drei versuchen, der Griechenland-Debatte ihren Stempel aufzudrücken. Das ist im Prinzip durchaus legitim und wichtig, denn der Ausgang des griechischen Dramas wird über Jahre das Selbstverständnis Europas prägen. Doch statt den Tatsachen nüchtern ins Augen zu blicken, geben sich alle drei ihren finalen Fantasien hin – kein Wunder, dass die Griechen stinksauer sind. 

Wann kommt der Grexit, hatte ich letzte Woche in diesem Blog gefragt. Die Antwort fällt heute schwerer denn je. Denn während die Märkte die Lage wieder entspannter sehen, wird die öffentliche Debatte über Griechenland immer schriller. Nach Sarrazins Buch, Grass’ Gedicht und Lagardes Interview hat man den Eindruck, dass die Entscheidung längst gefallen ist – der “Grexit” wäre demnach nur noch eine Frage der Zeit. 

Unsere drei Vordenker versuchen in Erwartung des scheinbar Unvermeidlichen die Deutungshoheit über das drohende Unheil zu erringen. Alle drei nutzen Griechenland als Folie für ihre eigenen Obsessionen. Mal geht es um die gute alte Zeit vor dem Euro (S.), mal um die Antike (G.), mal um das arme Afrika (L.). Zur Wahl stehen die deutsche Überlegenheit (S.), die deutsch-europäische Schuld (G.) und die Abwälzung jeder Verantwortung auf die Griechen (L.).

Mit der Realität hat das alles wenig zu tun. Sarrazin betrachtet das griechische Drama aus dem Blickwinkel eines Bundesbankers vor zehn Jahren. Mit dieser Brille erscheint ihm das alte Europa, das von DM und Bundesbank beherrscht wurde, als wirtschaftspolitisches Paradies – dabei stand Deutschland in der Endzeit Kohl und zu Beginn der Ära Schröder alles andere als gut da. Selbst in Griechenland war das Wachstum damals noch höher…

Grass dreht die Uhr noch weiter zurück – wie gewohnt bis zum 2. Weltkrieg und sogar zur griechischen Antike. Für den Dichter ist dies eine mögliche und produktive Perspektive, zur Beurteilung des aktuellen Dramas taugt sie nicht. Ich teile zwar Grass’ Meinung, dass die gegenwärtige Lage Griechenlands eine Schande für die EU ist – doch mit dem Faschimus hat dies ebenso wenig zu tun wie mit dem griechischen Kulturerbe.

Besonders verlogen ist jedoch Lagardes Interview im “Guardian”. Die konservative IWF-Chefin, die von Ex-Präsident Sarkozy ernannt wurde und für den gescheiterten Merkozy-Kurs steht, weist den Griechen selbst die Schuld am aktuellen Chaos zu und bekennt, sich mehr Sorgen um die Kinder in Afrika zu machen als um die in Athen. Auch das mag ehrlich gemeint sein. Doch Lagarde leugnet damit die Verantwortung des IWF für die katastrophale Lage in Griechenland. 

Seit IWF, EZB und EU in Ahen den Ton angeben, hat sich die Krise nämlich dramatisch verschlechtert, wie ich in diesem Blog mehrfach berichtet habe (zuletzt hier). Vorher wäre niemand auf die Idee gekommen, Athen mit Afrika zu vergleichen, heute scheint dies normal. Kein Wunder, dass sogar Lagardes bisheriger Verbündeter Venizelos protestiert und von einer “Beleidigung” spricht. Auch Linken-Chef Tspira protestiert.

Vermutlich wird Lagarde ihre Worte noch bereuen. Denn sie dürften die Gegner des Spardiktats stärken und die Rolle des IWF in Griechenland schwächen. Aber vielleicht war das ja genau ihr Ziel, vielleicht weiß sie ja mehr über den “Grexit” als wir…?

Siehe zu diesem Thema auch meine aktuelle Umfrage – sie steht hier


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