Rechtsgemeinschaft wankt, Mindeststeuer kommt – und viele haben die Absicht, Mauern zu bauen
Was bleibt von der Europapolitik der vergangenen Woche? – Das von der polnischen PiS-Regierung bestellte höchstrichterliche Urteil bringt die Rechtsgemeinschaft ins Wanken. Irland gibt sein Veto gegen die globale Mindeststeuer auf. Und zwölf EU-Staaten wollen eine Mauer bauen.
Die EU ist als Kohle- und Stahlkartell entstanden, dann war sie ein Binnenmarkt, neuerdings will sie eine Werte- und Rechtsgemeinschaft sein.
Dieses Selbstverständnis ist relativ neu. Als ich 2004 nach Brüssel kam, war kaum von Werten und Rechten, umso mehr von Regeln und Sanktionen die Rede.
Die Maastricht-Regeln sind mittlerweile ausgesetzt, Sanktionen hat es nie gegeben. Nun wankt auch noch die Bastion des EU-Rechts – Polen fordert sie offen heraus – siehe hier und hier.
Wie zu erwarten, hat sich nun auch Ungarn der Fronde angeschlossen. Der Entscheid aus Warschau sei Folge einer “schlechten Praxis der europäischen Institutionen”, heißt es in Budapest.
“Man strebt danach, ohne Änderung der EU-Verträge und durch schleichende Kompetenzausweitungen den Mitgliedsstaaten Befugnisse zu entziehen, die diese nie an die EU abgetreten haben”.
Aber auch die Wertegemeinschaft hat es schwer. Bei einem Treffen der Innenminister haben sich zwölf EU-Staaten für den Bau von Zäunen und Mauern an den Außengrenzen ausgesprochen.
Die EU-Kommission lehnte es zwar ab, das auch noch aus Gemeinschaftsmitteln zu finanzieren. Innenkommissarin Johansson hatte jedoch keine grundsätzlichen Bedenken. Oh my god…
Einziger Lichtblick dieser düsteren Woche: 136 Staaten haben sich auf einen globalen Mindestbesteuerungssatz von 15 Prozent für große Konzerne geeinigt.
Nach Irland gaben am Freitag auch Estland und Ungarn ihren Widerstand auf. Kommissionschefin von der Leyen feierte dies als Durchbruch.
Allerdings ist er nicht der EU zu verdanken, auch nicht Bundesfinanzminister und Bundeskanzler in spe O. Scholz, sondern dem Druck der USA…
Mehr Chroniken hier. Und hier noch die drei besten Blogposts der vergangenen Woche:
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Klaus Draeger
11. Oktober 2021 @ 17:55
Zu ‘Polen stürzt Europa in eine Verfassungskrise’:
Hat das Bundesverfassungsgericht (BVerG) in Deutschland dies nicht auch mehrmals versucht? Erinnert sei an seine Historie der ‘Solange-Urteile’. Der Tenor stets: solange die EU nicht in den Kern der vom Grundgesetz garantierten Bereiche eingreift, sei der Vorrang des EU-Rechts zu akzeptieren. Und eigentlich bei jedem Punkt, der bei diesbezüglichen Beschwerden aufkam, ist das BVerG stets zurück gerudert (obwohl die Mehrheit der RichterInnen zuvor ganz anders argumentierten).
Ein kleines Beispiel dazu hier:
https://www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de/article/3069.bundesverfassungsgericht-kontra-europaeische-zentralbank-vom-tiger-zum-bettvorleger.html
Das BVerG steht in der deutsch-konservativen ordoliberalen Tradition. Das polnische Verfassungsgericht in der Tradition des polnischen Staatsverständnisses der Zwischenkriegszeit (WWI – WW II; des Pilsudski Regimes).
Bei beiden geht es im es im Kern darum, ob die nationalstaatliche Verfassung Vorrang vor dem EU-Recht hat oder nicht, welche Eingriffe zu tolerieren sind oder nicht. Ich habe keine Sympathie für die national-konservative Regierung Polens, ihren politischen Kurs und was sie so macht.
Insofern: gleicher Maßstab für alle – oder nicht?
Politisch & ökonomisch driftet die EU weiter auseinander – trotz gegenteiliger Behauptungen. Dass Polen die EU in eine Verfassungskrise stürzen würde, ist nur ein Ausdruck dieser schon längeren Entwicklung. Wie sich das entwickelt – schauen wir mal …
ebo
11. Oktober 2021 @ 18:20
Aus linker Perspektive müsste man nun natürlich auf die Marktfixierung des EuGH hinweisen. Das höchste EU-Gericht urteilt regelmäßig auf der Basis des Binnenmarkts und der Marktfreiheiten – und oft gegen soziale Rechte und Freiheiten. Insofern gibt es keine allzu großen Unterschiede zum Bundesverfassungsgericht – außer bei der Finanzverfassung und beim Euro, wo Luxemburg zur EU und zur EZB hält und Karlsruhe zu Deutschland und zur Bundesbank. Unvereinbar ist das nicht. Da ist das Urteil aus Warschau von ganz anderem Kaliber…