Das VW-Land und die Regeln
Die VW-Affäre zieht immer weitere Kreise. Nach den USA soll nun auch die EU ermitteln, fordern Paris und London. Doch die EU-Kommission zögert – und das, obwohl Brüssel und Berlin offenbar über den Betrug informiert waren.
“Die Technik zur Motor-Manipulation ist in Berlin und Brüssel seit Langem bekannt.” Dies meldet die “Welt” unter Verweis auf ein Papier aus dem deutschen Verkehrsministerium.
Doch warum haben die Bundesregierung und die EU-Kommission dann nicht gehandelt? Warum mussten erst die US-Behörden eingreifen, um den massiven Betrug bei deutschen Diesel-Fahrzeugen aufzudecken?
Ob es vielleicht daran liegt, dass VW ein Staatsbetrieb ist, und Deutschland das größte und mächtigste EU-Land? Unser Kommissar G. Oettinger hat schon mehrfach seine schützende Hand über die deutsche Autoindustrie gelegt!
Berlin durfte auch schon ungestraft einen fertigen EU-Beschluss zu CO2-Emissionen bei Neuwagen aufschnüren und so neu regeln, dass es den Lobbyisten von VW und Daimler passte.
Wenn man einmal anfängt, fallen einem viele weitere Beispiele ein. Brüssel drückte auch beide Augen zu, als Berlin erst das Dublin-Abkommen für Syrien-Flüchtlinge brach und dann das Schengen-Abkommen aussetzte.
Und die EU ließ es zu, dass für den deutschen Exportüberschuss nicht nur eine besonders hohe Schwelle von 6 Prozent gilt (bei Defiziten gelten 3 Prozent), sondern dass es dafür auch keine Sanktionen gibt.
Kurz und schlecht: Deutschland, das anderen EU-Ländern gern Moralpredigten hält und Vertragstreue fordert, steht selbst auf Kriegsfuss mit den gemeinsamen Regeln. Und Brüssel schaut nur zu gern weg…
Nemschak
24. September 2015 @ 10:41
Was bei VW passiert ist, ist das industrielle Pendent zur Deutschen Bank. Da wie dort hat der Vorstand Unternehmensunkultur erzeugt, indem er den Leistungsdruck auf das Management und die Mitarbeiter überzogen und damit Betrug gefördert hat. Der Markt hat die Aktionäre dafür finanziell bestraft, die Behörden werden zusätzlich das Unternehmen mit saftigen Strafen belegen und (hoffentlich) auch involvierte Einzelpersonen strafrechtlich in die Mangel nehmen. Es liegt in beiden Fällen an den Unternehmen Korrekturen vorzunehmen. Rechtlich macht es keinen Unterschied, ob bei Zinsen oder Abgaswerten betrogen wird.
Carlo
23. September 2015 @ 15:39
Volkswirtschaftlich gesehen ist Deutschland keine homogene Einheit. Was für den einen Sektor oder Teile eines Sektors von Vortei/Nachteill ist, muss für andere nicht automatisch von gleicher Bedeutung sein. Da sollte man ein wenig differenzierter schauen.
ebo
23. September 2015 @ 16:03
Naja an der überragenden Bedeutung der Autoindustrie besteht wohl kein Zweifel, oder?
Carlo
23. September 2015 @ 17:27
@ ebo:
Mein Text ist ein wenig verrutscht. Er bezieht sich auf die ersten beiden Beiträge. So schnell entstehen Missverständnisse. 😉
Peter Nemschak
23. September 2015 @ 13:25
Es ist amusant zu beobachten, wie die Menschen, obwohl die Faktenlage noch keineswegs ausreichend untersucht worden ist, sich, ihren Vorurteilen folgend, bereits einen Reim aus den Vorfällen machen. Auch Journalisten sind nicht gefeit davor.
DerDicke
23. September 2015 @ 13:44
Der Betrug wurde zugegeben, es sind laut eigenen Aussagen 11 Millionen Fahrzeuge weltweit betroffen und 6.5 Milliarden an Rückstellungen wurden gebildet. Die Regierung wusste Bescheid.
Was davon ist “nicht ausreichend untersucht”?
Peter Nemschak
23. September 2015 @ 14:46
Warten Sie ab, schonen Sie Ihre Nerven. Es wird eine offizielle Untersuchung auf verschiedenen Ebenen geben. Wissen Sie, welche Unternehmen in der deutschen und möglicherweise europäischen Automobilindustrie betroffen sind? Wurden europäische Abgasvorschriften verletzt oder amerikanische oder beide? Wer hat ab wann konkret etwas von der Täuschung gewusst, und was gewusst? Es ist verfrüht, aus dem Fehlverhalten von VW einen nationalen Skandal zu machen, auch wenn manche Leute es gerne hätten.
S.B.
23. September 2015 @ 13:00
Nun stellt sich die Frage, warum die zahlreichen EU-Mitgliedsstaaten das (eine) Deutschland (mehrheitlich) beim Regelbruch so frei gewähren lassen. Gehen wir davon aus, dass es in der Politik keine Zufälle gibt, wird es handfeste Gründe dafür geben. Es muss also auch im Interesse von FR, IT, SP etc. liegen, dass D alle (zumeist negative) Aufmerksamkeit ständig auf sich zieht. Unbestreitbar hat es seine Vorteile, wenn man ein wenig im Abseits steht und sich das (hektische) Spiel eher von der Seitenlinie aus anschaut. Zumal, wenn man es selbst mit den Regeln auch nicht so ganz genau nimmt. Es soll ja nicht der Eindruck erweckt werden, als ob alle EU-Staaten außer D einen Heiligenschein über sich schweben hätten. Dem ist ganz und gar nicht so.
Nebenbei: Wenn die Technik der Motor-Manipulation in Berlin und Brüssel schon lange bekannt ist, dann ist sie es entweder vorher, aber mindestens zeitgleich auch in Amiland gewesen (–> NSA). Stellt sich also die Frage, warum die Amis jetzt erst mit ihren schon lange vorhandenen Erkenntnissen hervorkommen.
Zuletzt: Jeder, aber auch wirklich jeder, der die Abgas-und-Verbrauchswerte des EU-Normzyklus (bitte das “EU” beachten, da steht nicht “D”; also sind alle EU-Staaten verantwortlich) mit den Alltagswerten vergleicht, weiß, dass die EU-Normwerte der reinste Unfug sind. Der (gemeinschaftliche) Betrug ist schon auf dieser (EU-) Ebene ganz offen angelegt. Zu dieser Erkenntnis reicht mir der gesunde Menschenverstand. Dafür brauche ich keinen Computer und auch keinen Abgastest.
C.A.Wittke
23. September 2015 @ 12:33
Ich wette, diese “Testfunktion” haben alle Automobilhersteller in Ihren softwares integriert, manche nur cleverer als VW, was ja keine Kunst ist!
So wird aus “Made in Germany” mal schnell “Sham like Germany!
Dummdreistes, dämliches Management! Und die passenden Deckel zu diesen kriminellen Töpfen sind die gekauften Berufspolitiker.
DerDicke
23. September 2015 @ 13:41
Dann ist “Made in Germany” ja endlich das, was es ursprünglich auch sein sollte – ein Warnhinweis. Einfach mal die Geschichte dieses Labels anschauen.
Andreas
23. September 2015 @ 11:00
Auf der persönlichen Ebene ist das ein soziopathisches Verhalten. Der Soziopath hält nicht nur keine gemeinsamen Regeln ein (er versteht überhaupt nicht, dass es so etwas geben kann), sondern es ist unmöglich, sich an seine Regeln zu halten. Nicht nur weil diese strukturell eine “Illusion der Wahl” enthalten (siehe Griechenland), sondern auch, weil sie sich stetig ändern (müssen). Ein Soziopath muss also seinen koinzidenten Weg andauernd mit der Realität verwechseln und wird niemals das von ihm angerichtete Chaos als von ihm angerichtet “erkennen”, noch darin aufräumen. Im Umgang mit Soziopathen muss man raten, dass der richtige ist, keinen zu haben. Es ist wie mit Atomwaffen: der richtige Zug ist, keinen zu machen. Wenn ich dies aber auf die Bundesregierung übersetze, habe ich weniger eine Bande von Soziopathen sondern sehe mich mit einer soziopathischen Struktur von Macht gegenüber. Es ist irgendwie schwierig, als Bürger hier keinen Umgang zu haben, siehe auch 1984, dort wird sogar die Vergangenheit umgeschrieben (bei uns wird dies wenigstens ab und zu noch als Revisionismus erkannt, im Jahr 25 “deutsche” “Einheit” ist jedoch das zuständige Ministerium schon längst von dieser Krankheit befallen). Es bleibt die Frage, wieso ca. 2% Soziopathen (das ist der geschätzte Anteil an Menschen in der Gesellschaft) es schafft, nicht nur ab und zu soziopathische Politik zu machen, sondern gutgemeinte Institutionen und politische Paradigmen (wie Demokratie) in vollkommen dysfunktionale zu verwandeln. Weil die Lämmer schweigen. Adorno hat dies auch beobachtet, und viele andere (Cicero). Der wissenschaftliche Zyniker kommt also nicht weiter als zu der Feststellung, dass es anthropologisch konstant ist, in (steigenden) Gruppengrößen ohne nennenswerten Widerstand auf die Schlachtbank zu marschieren, wenn es nur dann wenigstens einigermaßen geordnet abläuft (z.B. in Centurien). Dazu gehört auch der Überbau einer “Ordnung”, in der der “Wille” eines “Herrschers” wohnt, der dem Blick der Lämmer entzogen ist. Ist unser Wissen nur Stückwerk, ist eine Kritik (an solcher Ordnung) bereits erkenntnistheoretisch unmöglich (und wird als Nestbeschmutzung zurück gewiesen). Es ist ungemütlich, aus der Ordnung zu fallen (Kafka, Benjamin), wenn auch dieser Ort erkenntnistheoretisch privilegiert ist. Wenn also Gabriel nicht mehr zuhören muss, einem Benjamin, Kafka, Rilke usw., dann ist der Kreis um die Schlachtbänke geschlossen. Es ist dann letztlich langweilig, sich mit dem Refrain zu befassen, den der jeweilige Prof. Sinn anstimmt (z.B.), dessen einzige Funktion darin besteht, zu bestätigen, dass die Inquisition (gleich welcher Genese) immer Recht hat. Insoweit besteht die Kantsche Unmündigkeit fort, aber sie muss mit einer Zurückweisung beginnen, nicht mit dem Sammeln von Wissen: dass eine Ordnung sei, die nicht selbst bestenfalls Stückwerk ist, und muss die (letztlich erkenntnistheoretische) Maskerade jeder Ordnung erkennen. Die Lämmer müssten ihre spontane Sprache (siehe dazu Fromm) als wahrhaftiger denn die Ordnung setzen.
GS
23. September 2015 @ 12:48
Wahnsinn, was die da für einen Bock geschossen haben. Angesichts der knappen Margen bei VW (die wahrscheinlich zu diesem Betrug geführt haben) wird mir allerdings schlecht, welche Konsequenzen das für die deutsche Wirtschaft haben kann. Da kommt der Migrantenstrom natürlich genau recht.
Arnould
23. September 2015 @ 10:30
Und es wird oft erwähnt, dass der Euro von Anfang an für Deutschland unterbewertet war.
GS
23. September 2015 @ 14:58
Achja, wo wird das erwähnt? Das ist schlicht falsch. Es war im Gegenteil eher so, dass die Wechselkursfixierung im Jahr 1999 eher ungünstig war für Deutschland. Nicht umsonst galt Deutschland in den ersten Jahren des Euro als kranker Mann Europas.
ebo
23. September 2015 @ 15:00
Stimmt, das habe ich auch so in Erinnerung!