Zehn Gründe, warum wir UK nicht brauchen
“Please don’t go”: Nach den deutschen Politikern fleht nun auch der “Spiegel” die Briten an, in der EU zu bleiben. Dabei ist UK schon jetzt nur noch halb drin – und oft kaum zu gebrauchen.
Hier die zehn wichtigsten Gründe, warum ein Brexit unter der Regierung Cameron kein Verlust wäre:
- Die Briten sind ohnehin nur noch halb dabei. Bei Schengen, dem Euro und Dublin sind sie jetzt schon außen vor; in der Flüchtlingskrise haben sie keine Rolle gespielt.
- Die viel gerühmte britische Außenpolitik ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Die letzte Aktion – the war on Iraq – hat Europa gespalten und unserer Sicherheit geschadet.
- In der Ukraine-Russland-Krise, der Syrien-Krise und der Türkei-Krise spielt Großbritannien derzeit praktisch keine Rolle; warum sollte sich das in Zukunft ändern?
- Im Streit um die Zuwanderung haben die Briten ihre treuesten Verbündeten vor den Kopf gestoßen: Polen und Balten sind sauer auf Camerons neue “Notbremse”.
- Im Streit um das EU-Budget hat Cameron – gemeinsam mit Kanzlerin Merkel – genau das Falsche gemacht: Mitten in der Krise hat er es gekürzt, nun herrscht Geldnot.
- Cameron hat versucht, die Wahl von Kommissionschef Juncker zu verhindern und den Spitzenkandidaten zu kippen. Wenn UK bleibt, dürfte ihm das wohl auch noch gelingen.
- Cameron hat erst zugelassen, die das City of London den Euro attackiert – und sich dann bei der Stützung quer gestellt; er war es, der den Fiskalpakt im Alleingang blockierte!
- Mit der viel gerühmten Freihandels-Mentalität ist es auch nicht mehr weit her. Bei TTIP ist von London nichts zu hören, in der Stahlkrise setzt Cameron auf Protektionismus.
- Cameron hat erst die europäischen Konservativen gespalten und zerlegt nun auch noch seine eigene Partei; so einen “gewieften” Taktiker können wir nicht gebrauchen!
- Unter Cameron steht UK mehr denn je gegen ein soziales und demokratisches Europa; wenn die Briten in der EU bleiben, dürfte sich die Blockade sogar noch ausweiten.
Komisch, dass diese zehn Punkte in der deutschen Debatte überhaupt keine Rolle spielen. Auch in der britischen Brexit-Diskussion werden sie weitgehend ausgeklammert.
Dabei ließen sich aus diesen zehn Punkten Forderungen für eine andere Politik ableiten – und damit auch gute Argumente für den Verbleib in der EU! Schön wär’s…
S.B.
13. Juni 2016 @ 09:06
@ebo: Nun bitte noch einen Artikel, warum wir die(se) EU nicht brauchen. 😉
Peter Nemschak
10. Juni 2016 @ 21:23
@ebo Die EU gehört insgesamt im Weltvergleich zu den sozialsten Staaten mit dem höchsten Lebensstandard für die Mehrheit. Auch im UK geht es den meisten Menschen besser als außerhalb Europas. Wenn Sie die Einkommensverteilung in der EU mit jener in anderen Industrieländern wie den USA, oder Russland und China, von den Entwicklungsländern ganz zu schweigen, vergleichen, werden Sie verstehen, was ich meine. Unsichere Zukunftsperspektiven drücken auf die Stimmung.
ebo
11. Juni 2016 @ 00:10
@Nemschak Nirgendwo ist die Ungleichheit so groß wie in Deutschland, wir haben schon fast amerikanische Verhältnisse. Was UK betrifft, so sollten Sie bedenken, dass es schon zur Hälfte außerhalb der EU ist. Cameron hat den britischen Sozialstaat oder das, was davon noch übrig war, kaputt gespart.
Life of Brianna
10. Juni 2016 @ 18:38
Ich grübele immer noch, ob der Artikel jetzt Satire ist – oder wirklich ernstgemeint.
Sollte er so gedacht sein, wie er da steht, würde ich gern ein paar Anmerkungen loswerden:
1-3) Es gibt weder an der Politik von Cameron noch der von Blair irgendetwas zu beschönigen- damit sind die Briten allerdings in guter Gesellschaft.
Dass man sie zunehmend weniger wahrnimmt, liegt zum Einen mit Sicherheit an der zunehmenden Entfremdung, weil sich die Briten mit der EU, wie sie jetzt ist, kaum mehr identifizieren können. Schaut man einmal in der britischen Presse durch die Kommentarspalten, fällt sehr deutlich auf, dass die EU und ihre Akteure nicht als Repräsentanten der Bevölkerung wahrgenommen werden – auch damit sind die Briten keinesfalls allein. Nur sind sie eben auch ein Stück räumlich entfernt.
Der zweite Grund könnte sein, dass Cameron unter massivem Druck steht und daheim inzwischen einen verheerenden Ruf genießt. Er hat alle Hände voll zu tun, sich innenpolitisch im Sattel zu halten.
Dritter und wahrscheinlich entscheidendster Punkt: die EU wird als Deutschland-dominierter Verein wahrgenommen, dessen Vorsitzende – Angela Merkel – ihre Vorstellung von Politik nach Belieben durchsetzt. Darüber kann sich jeder seine eigene Meinung bilden. Fakt ist aber, dass im UK viele keine großen Fans deutscher Dominanz sind.
4) Von durchschnittlich 330.000 Migranten, die netto nach Großbritannien einwandern, kommen 185.000 aus der EU.
Cameron hatte dereinst versprochen, die Zahl unter 100.000 zu drücken. Was – wie man sieht – bereits nicht möglich ist, weil fast die doppelte Anzahl zugewanderte EU-Bürger sind. Die Zuwanderer aus dem Commonwealth stehen nicht zur Diskussion.
Den EU-Bürgern kann die Einreise weiterhin nicht verwehrt werden. Sie können jetzt auf dem Papier aber nach mehreren Monaten ohne Job wieder wieder ausgewiesen werden. Was sich real als unmöglich erweisen dürfte. Eine Notbremse sieht anders aus.
5) Wieder einmal Frau Merkel. Aber die Briten sind deshalb überflüssig? Sehr steile These!
6) Wenn ich mir Junckers Werken und Wirken anschaue, fällt mir wenig ein, was Camerons Aktion in ein schlechtes Licht rücken würde.
Ich wundere mich nur, dass jetzt ausgerechnet Juncker als Argument gegen die Briten angeführt wird.
7) Zum Thema Euro und wer was verbockt hat, gäbe es sehr viel zu sagen. Die Briten kommen mir bei diesem Thema eher nicht an forderster Front in den Sinn, sondern eher der deutsche Bundestag.
8) TTIP – im Ernst? Cameron hat einen handfesten Skandal im eigenen Haus, nachdem im April ruchhaft wurde, dass die Regierung kritische Studien zu dem Thema geheimgehalten hat und nach einem Leak, der eine Abschaffung des NHS im Rahmen von TTIP nahelegt.
Cameron will den Deal unbedingt, allein seine eigenen Abgeordneten werden zunehmend fahnenflüchtig.
9) Cameron hat seine Partei in der Tat zerlegt. Nicht durch das Referendum selbst, sondern indem er mit seiner Britain stronger-Kampagne die Marschroute “alle auf Johnson” ausgegeben hat und statt sachlicher Argumente für einen Verbleib persönliche Attacken gegen seine Parteifreunde nicht nur duldet, sondern auch selbst aktiv unterstützt. Ich wünsche ihm viel Freude beim Scherbenkitten am 24.6. und nehme an, Corbyn stellt schon einmal den Sekt kalt.
10) Cameron ist indiskutabel. Dass er das Votum – unabhängig vom Ausgang – bis 2020 politisch überlebt, ist unwahrscheinlich.
Ein sozialeres Europa wird aber nicht von Cameron verhindert, sondern von den üblichen Akteuren und Austeritiy-Fanatikern. Die sitzen vornehmlich in Brüssel und Berlin.
Zum Schluss:
Ich finde es persönlich sehr bedauerlich, dass hierzulande täglich die altbekannte Angst- und Panikmache von allen möglichen Akteuren hoch und runter rezitiert wird (IWF, Weißes Haus, Geheimdienste, Finanzmärkte, Juncker, Schäuble,… – die Liste spricht für sich), während der Zustandbeschreibung der EU durch die LEAVE-Kampagne- insbesondere durch Boris Johnson – kaum Beachtung geschenkt wird.
Natürlich kann man kritisch hinterfragen, warum sich ausgerechnet Johnson plötzlich für Arbeiterrechte, Sozialprogramme und gegen TTIP stark macht. Das ist legitim und nicht unberechtigt.
Was er aber in seinem typischen Stil zu dem Weg darlegt, den die EU eingeschlagen hat – und zu den Optionen, die einem Land bleiben, selbst zu gestalten (sinngemäßes Zitat: Frau Merkel bestimmt, was Griechen und Italiener in ihren Parlamenten zu verabschieden haben, leider können Griechen und Italiener Frau Merkel aber nicht abwählen), ist großteils deckungsgleich zu den Analysen von Yanis Varoufakis, den man ebenfalls als Politclown abgetan hat.
Mein Fazit lautet: wir brauchen die Briten mehr als die Briten uns. Der absolute Supergau für die Leute, die für die europaweiten Verwerfungen verantwortlich zeichnen, wäre nicht ein UK außerhalb der EU – sondern ein erfolgreiches UK außerhalb der EU.
Persönlich halte ich diesen Knall für alternativlos (dass ich diese Vokabel nochmal gebrauchen würde…), um endlich wieder Bewegung in diese komatöse Politik zu bringen.
Daher drücke ich Camerons Gegnern alle Daumen.
ebo
10. Juni 2016 @ 19:35
@Life of Brianna Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende, das ist in der Tat verlockend…
Life of Brianna
11. Juni 2016 @ 12:46
Sehr interessant in dem Zusamenhang ist, wer warum raus will.
Natürlich kokettieren einige prall neoliberale Lords damit, endlich freie Bahn für eine massive Gewinnoptimierung zu Lasten der Arbeitnehmer zu haben.
Aber auch der Labour-Leader Corbyn hat sich seit den 70er Jahren stark gemacht gegen die undemokratische Entwicklung in Europa.
Die englische Presse hat jetzt die Artikel veröffentlicht, die bis vor kurzem sein Engagement über die Jahre hin gegen die EU belegen. Er hat sie mittlerweile (seit seiner Wahl) von seiner Homepage gelöscht.
Diese Texte könnten aber für viele Labour-Wähler den Ausschlag geben. Denn Corbyn selbst hatte sich bislang kaum – und wenn, dann widerwillig zugunsten Remain geäußert.
Aber es ist ja klar: welche Chancen er hätte, seine sehr sozialdemokratische Agenda als potenzieller PM innerhalb der EU durchzusetzen, sieht man exemplarisch an Tsipras und Hollande.
Das Schöne ist doch, dass die Briten im Fall eines Ausstiegs wählen können, welche Politik sie für die Zukunft möchten – und bei Bedarf alle 4 Jahre umentschieden.
Das können sie innerhalb der EU nicht, sie müssen die Linie mittragen – ob sie wollen oder nicht.
Und sie wollen nicht mehr, obwohl ihnen die Risiken durchaus bewusst sind. Die Stimmung in Netz (und bei Gesprächen mit Freunden dort) ist verheerend. Cameron hat mit seiner Schmutzkampagne den Rest an Zweifel zerstört, den viele noch hatten.
Und das Ende mit Schrecken wird offenbar immer attraktiver. Eine neue große Erhebung des Indipendent sieht die Aussteiger 10% in Führung. Und die 55%, die für den Brexit sind, nehmen nach dieser Erhebung ausdrücklich wirtschaftliche Einbrüche in Kauf.
Traurig, dass es dahin kommen musste.
Peter Nemschak
10. Juni 2016 @ 21:32
Die Briten haben sich historisch bis auf kurze Phasen nie wirklich mit Europa identifiziert. “Europe” war für sie immer mental weit weg. Bis heute ist die Klassengesellschaft in England tief in den Köpfen der Menschen verwurzelt. Old habits die hard. Das liberale Element, das Großbritannien zur EU beigetragen hat, würde der EU fehlen. Etatismus und Dirigismus französischer Prägung ist kein role model für Europa.
Freiberufler
10. Juni 2016 @ 16:31
Mit dem Brexit würde das bislang Undenkbare vorexerziert. Das ist ein Paradigmenwechsel, der das Ende der EU einläuten könnte. Die Eliten sind nicht grundlos besorgt!
ebo
10. Juni 2016 @ 17:39
Na klar, vor allem die deutschen Eliten würde es treffen, denn sie stützen ihre Macht derzeit vor allem auf UK. Mir ging es hier aber nicht um Macht und Institutionen, sondern um Politiken. Und da sieht es mit Cameron finster aus in UK. Der Mann ist eine einzige Katastrophe für EUropa.
Peter Nemschak
10. Juni 2016 @ 18:15
Ob Labour unter Führung von J.Corbyn wesentlich besser ist, bleibe dahingestellt. Der linke Flügel von Labour hat das europäische Projekt traditionell skeptisch als Teufelswerk des Kapitalismus gesehen – very British.
ebo
10. Juni 2016 @ 19:34
Labour ist für die EU, aber nicht mehr für eine neoliberale wie noch unter Blair, sondern für eine soziale. Dafür steht Corbyn, der genau wie Sanders ein neuer, unerwarteter Hoffnungsträger geworden ist. Darin liegt ja gerade das Paradox, dass ausgerechnet die “Altlinken” heutzutage die Hoffnung darstellen – dabei fordern sie nur das ein, was die Gründerväter einst versprochen hatten (und eigentlich selbstverständlich sein sollte).
Lina
10. Juni 2016 @ 15:40
Ergänzung:
11. Die CoL kann locker durch die CoF erstzt werde.
12. Bentley gehört eh schon VW und Mini Cooper BMW.
13. Die englische Sprache fällt weg – es kann endlich auch offiziell “deutsch gesprochen” werden
14. An England könnte ein weiteres “Exempel statuiert werden”
😀
do not mention the war
10. Juni 2016 @ 14:51
Einspruch. Auch die deutsche Aussenpolitik hat sich in letzter Zeit nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert. Merkel hat die CDU gespalten und eigentlich ganz Deutschland; nicht nur mit ihrer Flüchtlingspolitik sondern mit ihrer Zögerlichkeit in vielen Angelegenheiten. Wie UK steht auch Deutschland für ein unsoziales Europa. Ich sage nur 400-Euro-Jobs, Minijobs, Hartz IV etc. Deutschland setzt genauso auf Protektionismus wie alle anderen Länder. Also so ganz geht Ihre Rechnung nicht auf.
ebo
10. Juni 2016 @ 15:08
So weit ich weiß findet in Deutschland kein Referendum statt, oder? Ansonsten würden mir sicher auch zu Schland zehn gute Gründe einfallen…