Trumps Stinkefinger, Erdogans Charme-Offensive – und ein Brüsseler „Reisezirkus“

Die Watchlist EUropa vom 23. November 2020

Seit der Wahl von Joe Biden zum nächsten US-Präsidenten ist Noch-Amtsinhaber Trump in Brüssel eine Persona non grata. Die EU-Politiker sprechen seither zwar mehr denn je von den USA – doch Trumps Namen nehmen sie nicht mehr in den Mund.

Nun hat sich der Loser auf seine Art revanchiert: mit einem virtuellen Stinkefinger. Beim G-20-Treffen, das von Saudi-Arabien ausgerichtet wurde, glänzte Trump stundenlang durch Abwesenheit. Statt beim Gipfel zeigte er sich im Golfclub in Sterling.

„Ein Teilnehmer hat die Gelegenheit wahrgenommen, die eigene Großartigkeit zu schildern“, beschrieb Finanzminister Scholz nach dem Gipfel in der gemeinsamen Pressekonferenz mit Kanzlerin Merkel den peinlichen Auftritt von Trump.

Merkel bestätigte die Meinungsverschiedenheiten. Dass Trump den Gipfel schwänzte, schien sie aber nicht sonderlich zu stören. Denn auch ohne Trump wurde eine engere Zusammenarbeit bei der Coronakrise und beim Klimaschutz verabredet.

Die USA waren isoliert – können aber dennoch einen Erfolg vorweisen: Beim heiß begehrten Corona-Impfstoff von Pfizer/Biontech werden sie wohl als Erste zuschlagen, jedenfalls noch vor der EU. Bereits am 11. Dezember soll die Impfung in Nordamerika beginnen.

Trump ist dies zwar nicht zu verdanken. Er hat sich sogar darüber beschwert, dass die beiden Firmen ihren Impf-Erfolg erst kurz nach der Präsidentschaftswahl verkündeten. Dennoch dürfte er nun alles tun, um sich die Impfkampagne an die eigene Brust zu heften.

Und was macht die EU? Sie versucht, den Impfstoff fair zu verteilen – nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt. Allerdings lassen die versprochenen Impfstoff-Verhandlungen für ärmere Länder auf sich warten. Merkel mahnt deshalb nun zu Eile.

„Es beunruhigt mich, dass es keine Verhandlungen gibt“, sagte sie am Sonntag Abend nach dem G20-Gipfel. Die EU und die USA seien schon weit fortgeschritten, sich Impfstoffe zu sichern. Aber die G20-Initiative Covax sei noch nicht so weit.

Auch sonst läuft Merkel die Zeit davon. Schon in fünf Wochen, am 31. Dezember, endet der deutsche EU-Vorsitz – und bisher fällt die Bilanz im Kampf gegen COVID-19 und die Folgen mager aus. Selbst der sicher geglaubte Corona-Aufbaufonds steht wieder infrage…

Siehe auch „Ein großer Rückschlag, ein großes Versprechen“

Watchlist

Kommt es diese Woche doch noch zu einer Einigung mit London? Man sei einem Deal zum Greifen nahe, hieß es bei einem Briefing der EU-Botschafter am vergangenen Freitag. Allerdings äußerte sich EU-Kommissionschefin von der Leyen deutlich vorsichtiger. Es seien noch etliche Meter bis zum Ziel zurückzulegen, so von der Leyen, und der Zeitdruck sei hoch. Dass die britische Regierung durchaus weiß, wie man handelseinig wird, zeigte sie am Wochenende mit einem Handelsdeal mit Kanada. Allerdings ist das Abkommen nur vorläufig, 2021 soll ein „maßgeschneiderter“ Vertrag folgen.

Was fehlt

Das überraschende Bekenntnis von Sultan Erdogan zu Europa. „Wir sehen uns immer als Teil von Europa“, sagte Erdogan vor Mitgliedern der Regierungspartei. „Wir haben uns entschieden, Europa vorzuziehen, solange sie uns nicht zwingen, uns anderswo umzuschauen.“ Die Rede zielte offenbar auf den EU-Gipfel am 10. und 11. Dezember. Dort muß die EU entscheiden, ob sie auf Erogan zugeht – oder Sanktionen gegen die Türkei verhängt. Der deutsche EU-Vorsitz will die Entscheidung bis zur letzten Minute offen halten – nun beginnt Erodgan mit einer durchsichtigen Charmeoffensive…

Das Letzte

Nicht nur viele Europaabgeordnete pendeln regelmäßig zwischen ihrem Wahlkreis und Brüssel – trotz Corona. Auch Mitarbeiter der EU-Kommission haben ihren „Reisezirkus“, wie nun herauskam. Der Grund ist, dass sie im Homeoffice arbeiten müssen – dieses nach den Regeln aber am Dienstort Brüssel liegen muß. Dies führt dazu, dass Deutsche, Franzosen und andere viel mehr reisen als in Pandemie-Zeiten angesagt wäre. Immerihn soll es zu Weihnachten eine Sonderregelung geben – die Mitarbeiter dürfen ihr Homeoffice dann für zwei Wochen in ihre Heimat verlegen…

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