Schulmeister aus Karlsruhe

Das Bundesverfassungsgericht hat die Drei-Prozent-Hürde für die Europawahl geknackt. Die Linken jubeln, die Grünen schimpfen – sie könnten nun weniger Abgeordnete bekommen. Doch das eigentliche Problem ist die Begründung aus Karlsruhe. Ein Gastbeitrag.

Von Maximilian Steinbeis

Gibt es Gründe, sich um die Funktionsfähigkeit des Europaparlaments Sorgen zu machen? Angesichts der Tatsache, dass nach der Eurokrise die Legitimationsgrundlagen des ganzen Integrationsprojekts europaweit ins Wanken geraten sind? Angesichts der Tatsache, dass das Europaparlament die einzige Institution der EU ist, die über eine zwar unvollkommene, aber doch immerhin unmittelbare demokratische Legitimation verfügt? Angesichts der Tatsache, dass ein dysfunktionales Europaparlament, das keine Mehrheit mehr zustande bringt, die EU insgesamt lähmen und so eine Spirale der immer weiteren Delegitimierung der Integration in Gang setzen könnte? Angesichts der Tatsache, dass in vielen EU-Ländern wohl Parteien die Europawahl gewinnen könnten, die an einem funktionierenden, Mehrheiten generierenden Europaparlament überhaupt kein Interesse haben?

Eine ganze Menge Tatsachen sind das, und eine ganze Menge Fragezeichen. Aber ein Grund zur Sorge? Nicht für das Bundesverfassungsgericht. Jedenfalls keiner, der den deutschen Gesetzgeber dazu berechtigen würde, wahlrechtliche Stabilisierungsmaßnahmen zu ergreifen.

Dass der Zweite Senat die Dreiprozenthürde im Europawahlrecht gekippt hat, dürfte nach der vorangegangenen Entscheidung zur Fünfprozenthürde von 2011 niemanden überraschen. Dass er es (erneut) mit einer dermaßen engen, parochialen, schulmeisterlichen Begründung tun würde, dann vielleicht doch.

Ein politisiertes Europaparlament

Kurz zur Erinnerung: Im November 2011 hatte der Zweite Senat den Passus im Europawahlgesetz für verfassungswidrig und nichtig erklärt, der Parteien von der Mandatsverteilung ausschließt, die weniger als fünf Prozent der Stimmen erreicht haben. So etwas gibt es bekanntlich auf Bundes- und Landesebene auch, aber anders als dort fand der Senat im Fall des Europaparlaments eine solche Einschränkung der Wahlrechts- und der Chancengleichheit der Parteien durch keinen zwingenden Grund gerechtfertigt: Im Bund und in den Ländern könne man so etwas machen, damit das Parlament als Parlament funktionieren kann – also stabile Mehrheiten bilden, die die Regierung tragen und Gesetze beschließen kann. Beides tue das Europaparlament nicht. Deshalb sei es nicht weiter schlimm, wenn dort alle möglichen Kleinstparteien Einzug halten – jedenfalls nicht schlimm genug, um deshalb gleich die Wahlrechtsgleichheit einzuschränken.

Dabei stellte der Senat aber klar, dass dies nur ein vorläufiger Befund sei: Wenn sich die Verhältnisse im EP dereinst einmal ändern sollten, könne die Sache anders aussehen.

Der Gesetzgeber befand daraufhin, nicht ohne einen gewissen Trotz, dass sich die Verhältnisse in der Tat geändert hätten. Und führte anstelle der nichtigen Fünfprozenthürde flugs eine neue Dreiprozenthürde ein.

Tatsächlich hatte sich die Situation insoweit weiterentwickelt, als sich in der Zwischenzeit abzeichnete, dass es bei der Wahl 2014 wohl nicht nur um Mandatsverteilung gehen wird, sondern um eine handfeste politische Machtfrage: Martin Schulz, der Spitzenkandidat der europäischen Sozialdemokraten, will, so er die Wahl gewinnt, Kommissionspräsident werden. Auch die anderen großen Parteifamilien werden mit einem Spitzenkandidaten in die Wahl ziehen. Der Kommissionspräsident wird zwar vom Rat ernannt, aber vom Parlament vorgeschlagen. Und vorgeschlagen wird, so Gott will, wer eine Mehrheit hinter sich versammelt – durch sein Wahlergebnis, durch Koalitionsbildung, durch Politik.

Das ist neu und wird, so die Hoffnung, den Wahlkampf und den Charakter des Europaparlaments fundamental verändern. Und dem EP und damit der ganzen EU ein Stück mehr demokratische Legitimation verleihen, die sie gerade im Moment so existenziell dringend nötig hat.

Nun kann man darüber, ob diese Entwicklung tatsächlich so viel Legitimationswirkung liefern wird wie erhofft, mit guten Gründen streiten. Ein Parlament, das der expertokratischen Logik der Kommission nacheifert und seine Gestaltungsaufgaben in Ausschüssen und intransparenten Trilog-Verhandlungen zu erfüllen sucht, wird kaum zu einer Bühne politischer Auseinandersetzungen um den richtigen Weg in Europa und zu einem Bezugsort einer politischen europäischen Öffentlichkeit werden können, nur weil die in ihm vertretenen Parteien alle fünf Jahre ein Bündnis für die Wahl des Kommissionspräsidenten zusammennageln. Aber das nur am Rande.

Prognosespielräume

Was jedenfalls sagt Karlsruhe dazu? Immerhin hat der Senat sich nicht dazu provozieren lassen, den Vorgang als Akt des gesetzgeberischen Ungehorsams und Bruch der verfassungsrechtlich gebotenen Organtreue zu werten, was man berücksichtigen sollte, bevor man dem journalistischen Reflex nachgibt, den bis zum Überdruss abgedroschenen Spruch von der “Ohrfeige für die Politik” in die Artikelüberschrift zu schreiben.

Ansonsten: Er sagt eigentlich fast gar nichts. Jedenfalls nichts Neues. Er sieht halt einfach nur nach wie vor weit und breit nichts, was ihn als Grund überzeugen könnte, warum die Wahlrechtsgleichheit zu Lasten der Wähler von Kleinstparteien eingeschränkt werden müsste.

Dass das EP seine wachsenden Legislativaufgaben nicht mehr erfüllen könnte, wenn immer mehr kooperationsunwillige Splitterpolitiker in ihm sitzen? Dazu sei “nichts Greifbares vorgetragen”.

Auch die neuen Entwicklungen – der Wille des EP, über die Personalie des Kommissionspräsidenten politisch zu entscheiden, und die Spitzenkandidaturen der europäischen Parteienfamilien – tut die Senatsmehrheit mit einem Achselzucken ab: Ja, wenn das EP so weit sei, ähnlich wie der Bundestag die europäische Regierung zu wählen und zu tragen, dann könne man über alles reden. Aber diese Entwicklung stecke “noch in den Anfängen”, und wie sie sich am Ende auswirke, sei “derzeit nicht abzusehen” und “bleibt spekulativ”.

Schon möglich, möchte man einwenden. Aber unter solchen Bedingungen der Ungewissheit Entscheidungen zu treffen und die unklare Situation zu gestalten und Anreize und Anstöße in die eine oder andere Richtung zu geben – ist nicht genau dazu die Politik da?

Nein, sagt der Senat, jedenfalls nicht hier. Im Wahlrecht sei kein Platz für eine Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers. Da gehe es um die Gestaltung der eigenen politischen Erfolgschancen, und deshalb müsse man ihm verfassungsgerichtlich besonders penibel auf die Finger schauen.

Hier liegt, wie ich finde, der Knackpunkt dieser Entscheidung. Denn damit bringt sich das BVerfG in die Situation, eine politisch zu treffende und zu verantwortende Prognoseentscheidung nicht nur nach ihrer Vertretbarkeit, sondern danach beurteilen zu müssen, ob die prognostizierten Folgen auch “konkret” und “greifbar” genug oder am Ende womöglich “spekulativ” sind. “Konkret” und “greifbar” genug sind sie aber erst dann, wenn sie bereits eingetreten sind. Alles andere würde dem Gericht selbst eine Prognoseentscheidung abverlangen, die es gar nicht leisten kann.

Nach der Logik der Senatsmehrheit könnte der Gesetzgeber somit eigentlich erst dann aktiv werden, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Erst wenn das Europaparlament tatsächlich völlig dysfunktional geworden ist und keine Mehrheit mehr zustande kommt, kann dem Gesetzgeber der Beweis gelingen, dass man es tatsächlich mit einer Situation zu tun hat, deren Verhinderung eine Einschränkung der Wahlrechtsgleichheit aufwiegen kann.

Und das soll in der gegenwärtigen europapolitischen Situation der Handlungsrahmen des deutschen Gesetzgebers sein, was seine Verantwortung den Parlamentarismus auf europäischer Ebene betrifft?

Interessant ist zuletzt, dass sich die Mehrheitsverhältnisse im Senat seit 2011 nicht verändert haben, obwohl die beiden Dissenter von 2011 Di Fabio und Mellinghoff mittlerweile ausgeschieden sind. Immer noch ist der Senat 5:3 gespalten. Die dritte Gegenstimme von 2011 war offenbar nur mit den Entscheidungsgründen nicht einverstanden, trug das Ergebnis aber mit. Jetzt haben neben dem Dissenter Müller zwei weitere, nicht namentlich genannte Richter_innen gegen die Mehrheitsmeinung gestimmt. Das heißt wohl, wenn ich mich nicht irre, dass mindestens eine der Mehrheits-Stimmen von 2011 seine/ihre Meinung geändert hat, oder nicht?

Dieser Beitrag wurde zuerst im “Verfassungsblog” veröffentlicht, das Original steht hier. Siehe zu diesem Thema auch meine aktuelle Umfrage