“Rückfall ins Nationale”
Die Linke hat ihren Europa-Streit beigelegt. Genossen aus Ost und West verständigten sich auf einen EU-kritischen Kompromiss, meldet der “Tagesspiegel”. Dennoch steigt der Europaabgeordnete J. Klute aus. Seiner Meinung nach  denken viele Linke zu national – wie Kanzlerin Merkel.
Herr Klute, Sie scheiden nach nur fünf Jahren aus dem Europäischen Parlament aus, dabei haben Sie sich in Brüssel einen Namen gemacht. Zu Ihren Erfolgen zählt, dass Sie das Recht auf ein Konto für jeden starkgemacht haben. Warum machen Sie nicht weiter?
Das hat auch mit den Erfolgen zu tun. „Recht auf Konto“ hilft vielen Menschen – aber es ist nicht hundertprozentig antikapitalistisch. In der Linkspartei aber sagen viele nur, „wir wollen das Kapital weghaben und die EU gleich mit“ – und kritteln an der Arbeit der Europaabgeordneten herum.
Ist das denn nicht nur eine Minderheit in der Linken?
Ja, aber in NRW, wo ich herkomme, dominiert dieser Ruf die Partei. Auch in den übrigen Teilen der Partei wird die europäische Ebene bis heute zu wenig ernst genommen. Man verkämpft sich in Abgrenzungen und hat wenig Möglichkeit zu vermitteln.
Schon Lenin hat sich über den Linksradikalismus als Kinderkrankheit des Sozialismus lustig gemacht …
Ja, aber bei den Linken ist das keine Kinderkrankheit, es ist chronisch! Zudem möchten sich viele nur auf die inneren Probleme der Euro-Krisenländer konzentrieren. Sie machen es auch nicht anders als Bundeskanzlerin Merkel und lenken von der europäischen Dimension der Krise ab. Zwischen einigen Linken und Merkel kann ich Unterschiede nur noch im Detail erkennen.
Über das Europaprogramm gibt es ja Streit bei den Linken – denkt die Partei für Ihren Geschmack zu national?
Ja, auch wenn das niemand zugeben würde. Es wird damit begründet, dass die europäische Integration kapitalistisch ist. Dabei hat das Projekt EU durchaus positive Wirkungen. Es führt zu einer Zivilisierung von Interessenkonflikten, die nun nicht mehr im Schützengraben ausgetragen werden. Das ist ein enormer zivilisatorischer Fortschritt, den wir als Friedenspartei würdigen und weiterentwickeln sollten.
Die EU ist aber auch eine neoliberale Wirtschaftsunion, wie sich in der Eurokrise knallhart gezeigt hat. Ist sie ihrer Meinung nach denn überhaupt noch reformierbar?
Als ich 2009 ins Europaparlament kam, hätte ich auch gesagt, dass die EU immer neoliberaler wird. Vor allem Merkel will neoliberale Pflöcke einschlagen. Aber hier in Brüssel gibt es auch Leute wie EU-Binnenmarktkommissar Michel Barnier, der ist bestimmt kein Neoliberaler! Und das Europaparlament hat den Kurs in einigen wichtigen Punkten korrigiert. So konnten wir durchsetzen, dass bei der makroökonomischen Überwachung der Euroländer auch Außenhandelsüberschüsse wie Deutschland sie produziert berücksichtigt werden. Eine liberale Abgeordnete wie Sylvie Goulard hat es geschafft, dass man über Eurobonds verhandelt!
Auch unser Bericht zur Troika zeigt, dass es im Europaparlament Widerspruch zum neoliberalen Kurs gibt. Das ist zwar nicht das, was sich die Linke unter Sozialismus vorstellt, aber es sind wichtige Schritt in Richtung einer Alternative zur jetzigen EU. Wir sind gerade in einer kritischen Phase, in einer Umbruchphase auf EU-Ebene, deshalb bin ich nicht hoffnungslos.
Dieses Interview habe ich für die “taz” geführt, der Originaltext steht hierÂ
fufu
15. Februar 2014 @ 20:22
Herr Nemschak, ich war in den 60er Jahren haeufig mit meinen Eltern in Oestereich in Urlaub. Auch Oesterreich war damals im Vergleich zu Deutschland sehr aermlich und Sie haben recht, auch der Sueden Italiens und Griechenland war in dieser Zeit noch sehr arm. Das aendert jedoch nichts an der Tatsache, dass sich diese Laender sehr schnell entwickelt haben.
Nun setzen Sie, wie in der orthodoxen Volkswirtschaft ueblich, die Produktivitaet eines Landes (hier muesste man eigentlich genau definieren wie man diese statistische Groesse misst, ueber das Bruttosozialprodukt oder ueber die Gueterproduktion pro z.B. Arbeitskosten oder Energie …) mit dem, Sie sagen es, materiellen Lebensstandard gleich.D.h. je mehr ein Mensch konsumieren kann, desto besser geht es im. Sowohl uber das Mass der Produktivitaet (sie koennen ja nur messen was sie sehen, das heisst die ganze Schattenwirtschaft geht hier nicht ein, aber auch eine Hausfrau die Nudeln fuer das Mittagessen bereitet ist produktiv) als auch ueber letzteres koennte man diskutieren, aber ich will auf etwas anderes hinaus.
Deutschland ist ja Exportweltmeister, d.h. es produziert Waren fuer den Export in guter Qualitaet zu einem guenstigen Preis, es hat also eine hohe Produktivitaet. Aus bestimmten Gruenden kommt aber in Deutschland nicht das bei den Lohnabhaengigen an, was aufgrund der hohen Produktivitaet ankommen muesste. Deshalb ist D das Land der Discounts, “Geiz ist geil” usw. Es kommt aber noch schlimmer. Deutschland verkauft seine Waren auf Kredit an die Suedlaender (und nicht nur) und wird diese Kredite nie wiedersehen, wie Prof. Sinn sagt, es koennte seine Produkte auch verschenken.Letztlich werden Deutschlands Exporte zu Staatsschulden.
Also wundern Sie sich nicht wenn die Deutschen arm sind, wenn man ein realistischeres Mass fuer den Lebensstandard nehmen wuerde, saehe der Vergleich noch trauriger aus, aber das wird die deutsche Tagesschau nie so sagen.
Tim
15. Februar 2014 @ 11:17
Und wieder der beileidigende Blödsinn, daß der offene Staatskorporatismus der EU und ihrer Länder “neoliberal” sei. Warum brauchen Linke dieses unsinnige Angstgespenst?
Peter Nemschak
16. Februar 2014 @ 12:31
Gemeinsame Feindbilder (wir und die anderen) wirken stark gemeinschaftsbildend und motivierend. Das nutzen Populisten von rechts und links seit Menschengedenken weidlich aus.
Johannes
14. Februar 2014 @ 18:59
Wie, keine Meldung, dass Martin Schulz von der SPD mit nationalistischem Gedankengut Isarel kritisiert und am rechten Rand fischt? Hätte die AfD das gemacht, wäre klar, wie hier auf dem Blog gehetzt werden würde gegen die Partei, aber einem SPD Politiker lässt man das gerne durchgehen.
Peter Nemschak
15. Februar 2014 @ 11:21
Eine neutrale Analyse dürfen Sie bei diesem Blog nicht erwarten. Ebo hat klare politische Vorstellungen, die Sie teilen mögen oder auch nicht. Je nach ideologischem Blickwinkel kommen Sie zu einer unterschiedlichen Interpretation der sozialen Wirklichkeit.
fufu
14. Februar 2014 @ 18:51
Herr Nemschak, Sie haben keine Ahnung wie der materielle Lebensstandard in den Suedlaendern (natuerlich meine ich vor EU) war. Er war hoeher als in billig-, billiger, am billigsten-Deutschland. Sie reden ohne eigene Anschauung.
Peter Nemschak
15. Februar 2014 @ 11:11
Ich habe den Süden Europas seit den 60-iger Jahren regelmäßig bereist. Insbesondere der Süden Italiens, aber auch ganz Griechenland waren für europäische Verhältnisse, materiell betrachtet, Armenhäuser. Die Korruption in Griechenland habe ich aus eigener Geschäftserfahrung erlebt. Dies bedeutet nicht, dass die Menschen unglücklicher als im Norden waren. Zufriedenheit ist auch eine Frage des kulturellen Kontextes, wie Sie selbst anschaulich beschrieben haben.
Hannes
15. Februar 2014 @ 14:14
Peter, ich bewundere Deine Ausdauer…
Peter Nemschak
14. Februar 2014 @ 13:17
@Horn Auch ohne gemeinsame Währung wäre der materielle Lebensstandard im Süden geringer als in Deutschland geblieben. Produktivitätssteigerungen sind eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für Lohnsteigerungen. Für den globalen Wettbewerb, der sich in den letzten Jahren deutlich verschärft und auf die Lohnentwicklung gedrückt hat, können Sie nicht Deutschland verantwortlich machen. Niemand hat die südlichen Länder Europas zu einer Teilnahme am Eurowährungsraum gezwungen. Der Begriff “soziales Europa” klingt gut, ist aber ein leeres Schlagwort. Was meinen Sie konkret damit? Woraus schließen Sie, dass Ihre Wählerstimme national mehr bewirkt als in der EU?
Sebastian Horn
14. Februar 2014 @ 10:23
Danke für das Interview. Aber irgendwie ist es fast rührend, an welchen “Erfolgen” sich Klute hier festhält. Wenn man das mit der Eiseskälte vergleicht, die diese EU über den KOntinent gebracht hat… ohne Worte. Aber für manche scheint ein gemeinsames Europa ein völlig undefinierter Selbstzweck ohne Alternative zu sein.
Peter Nemschak
14. Februar 2014 @ 12:18
Wie sieht die Alternative aus Ihrer Sicht aus?
Sebastian Horn
14. Februar 2014 @ 12:40
Ich vermisse am Status Quo der EU eine stärkere soziale Komponente und vor allem eine klarere demokratische Legitimation. Beides lässt sich in meinen Augen eher in einzelnen Nationalstaaten verwirklichen. Zumindest in Fragen der demokratischen Legitimation sind die Nationalstaaten der Union um Längen vorraus. Dass vor diesem Hintergrund auch noch Europarecht über nationalem Recht steht, lässt mich dann halt doch einigermaßen europaverdrossen zurück.
Ohne gemeinsame Währung würde auch die vielgepriesene deutsche “Wettbewerbsfähigkeit” lange nicht so gnadenlos ihre Opfer im Süden fordern.
Bruno
14. Februar 2014 @ 09:25
Was heißt hier “Rückfall”. Fortschritt würde es besser treffen !
Peter Nemschak
14. Februar 2014 @ 09:12
Was die Kanzlerin wirklich denkt, wissen wir nicht. Ihr Handeln ist national und reflektiert das Denken einer zumindest starken Minderheit, wenn nicht gar der Mehrheit in der Bevölkerung. In Krisenzeiten neigen Menschen zur Regression. Es ist die Sehnsucht nach dem “Bekannten” und “Bewährten”. Der mentale Aufbruch in eine unbekannte Zukunft wird, so scheint es, von der Mehrheit nur nach Katastrophen gewagt, die man überlebt hat. Der Populismus spielt mit diesen Ängsten, ohne eine befriedigende Lösung anbieten zu können, und die Menschen fallen immer wieder darauf herein.