Erdogan droht, Europa hilft
Genau sechs Tage ist es her, dass sich Präsident Erdogan über angeblich mangelnde Hilfe der EU für syrische Flüchtlinge in der Türkei beklagt hat. Nun reagiert Brüssel – mit dem „größten Hilfsprogramm aller Zeiten“.
348 Millionen Euro sollen in ein neues EU-Programm für elektronische Bezahlkarten fließen, mit denen Flüchtlinge Nahrungsmittel, Unterbringung oder Schulunterricht finanzieren können.
Sie sind Teil der zugesagten 3 Mrd. – und wohl auch eine Geste, die Erdogan besänftigen soll. Denn die EU fürchtet den Zorn des Sultans; erst gestern drohte er wieder mit dem Ende des Flüchtlingsdeals.
Als nächstes sollen zwei EU-Kommissare zum Rapport nach Ankara reisen. Sie arbeiten mit Hochdruck daran, auch die Visa-Liberalisierung für die Türkei umzusetzen, die der Sultan verlangt.
Von EU-Forderungen zu Demokratie und Menschenrechten hingegen hört man nichts mehr in Brüssel. Sie wurden jetzt auf den Europarat in Straßburg ausgelagert – die EU hat wohl Wichtigeres zu tun…
Ute Plass
9. September 2016 @ 09:23
EIN SCHRITT in die richtige Richtung:
„Gedacht ist das sogenannte Emergency Social Safety Net (ESSN) für rund eine Million besonders bedürftiger Flüchtlinge. Konkret sollen „die Verwundbarsten“ der Flüchtlinge in der Türkei – ob sie aus dem Bürgerkriegsland Syrien stammen oder nicht – eine elektronische Bezahlkarte erhalten. Auf diese Karte wird ab Oktober monatlich ein Guthaben aufgeladen. Damit können die Menschen ihre Einkäufe und anderes bezahlen. Einen Betrag nannte der für das Programm zuständige EU-Kommissar für humanitäre Hilfe und Krisenschutz, Christos Stylianides, nicht. Der werde individuell ermittelt. Bei Familien gebe es zusätzliches Geld, etwa für Bildung.
Man wolle den Menschen ein Leben in Würde ermöglichen, sagte Stylianides. Sie sollen nicht mehr von Nahrungsmittelhilfen abhängig sein. Er nannte das Programm eine „bahnbrechende Neuerung“.
http://www.deutschlandfunk.de/fluechtlinge-in-der-tuerkei-eu-verteilt-erstmals-geld-per.1818.de.html?dram:article_id=365359
Peter Nemschak
8. September 2016 @ 17:09
@Skyjumper Zumindest politisch liegt die Verantwortung für Syrien nicht bei Deutschland sondern beim UK und Frankreich, welche die Region nach dem Ersten Weltkrieg politisch geordnet haben. Sie argumentieren zu einseitig marxistisch und verbauen sich damit Lösungen. Über das Henne – Eiproblem kann man ewig streiten, Reale Politik muss sich um Lösungen kümmern. Ein moralischer Diskurs löst nichts.
Skyjumper
8. September 2016 @ 20:53
@Peter Nemschak
Jetzt durfte ich eben beim Lesen doch herzlich schmunzeln. Ich kann Ihnen natürlich Ihren Eindruck nicht nehmen. Aber das man mich eines marxistischen Gedankengutes oder einer solchen Argumentation verdächtigt passiert mir nur sehr selten. Kaum etwas liegt mir als überzeugten Individualisten (und Egoisten) ferner als der Marxismus und die weiteren sozialistischen Ableger davon.
Es geht mir auch überhaupt nicht um einen moralischen Diskurs da ich, wie Sie, der Meinung bin dass dies kein Weg ist um pragmatische Lösungen zu finden. Sehr wohl allerdings geht es mir darum den Teufelskreis der von mir skizzierten Schritte zu durchbrechen. Und das wäre relativ einfach wenn der Westen (ich hatte bewußt diese umfassendere Bezeichnung gewählt) aufhören würde sich in fremde Angelegenheiten einzumischen weil man sich als moralisch überlegen wähnt, bzw. es der Öffentlichkeit so verkauft.
Denn es ist zwar wirklich so dass der Ursprung der Probleme vielfach in den willkürlichen Grenzziehungen in der Zeitspanne WK1 +/- 15 Jahre liegt, aber soweit wollte ich gar nicht zurückgehen. Unsere aktuellen Probleme haben ihre unmittelbaren Ursachen in den Einmischungen der letzten 30 Jahre wenn man weit zurückgehen möchte. Realistischer ist es den Zeitrahmen mit 15 Jahren anzusetzen (beim 2. Irakkrieg) um die akuten Destabilisierungen zu begründen.
Eine akut bis heute nachwirkende Einmischung, die länger zurückliegt, ist die von Großbritannien protegierte Gründung des Staates Israel nach dem 2. Weltkrieg. Diese blende ich für mich allerdings immer ein wenig aus da ich es sehr schwierig finde für diesen Konflikt ein „richtig“ und „falsch“ zu definieren.
Peter Nemschak
8. September 2016 @ 14:00
Die Türkei hat alleine mehr Flüchtlinge als die EU als Ganzes aufgenommen. Da ist es nur recht und billig, dass sie auch zahlt. Früher war es üblich, dass jene, welche den Militärdienst nicht leisten wollten, auf ihre Kosten einen Soldaten ausrüsten mussten. Heute müssen Unternehmen, welche ihren Verpflichtungen unter dem Behinderteneinstellungsgesetz nicht nachkommen, ihre Verpflichtungen in Geld ablösen. Hätte die EU rechtzeitig die Flüchtlingslager in der Region adequat finanziell unterstützt, wären weniger Flüchtlinge nach Europa gekommen. Je länger der Bürgerkrieg in Syrien dauert, desto weniger geflüchtete Menschen werden in ihre Heimat zurückkehren wollen. Dann werden aus temporär schutzbedürftigen Kriegsflüchtlingen Wirtschaftsflüchtlinge. Die EU hätte ausreichend militärische Ressourcen inklusive Bodentruppen (Berufssoldaten, die eben für solche Zwecke ausgebildet sind, sonst bräuchten wir sie nicht) gehabt, um noch vor Eintreffen der Russen, Assad zu entfernen, den Bürgerkrieg zu beenden und nicht den Fehler der USA zu begehen, zu früh das Land wieder zu verlassen, weil der Aufbau einer demokratischen Gesellschaft in einer schwierigen Region sehr viel Zeit, wahrscheinlich eine Generation, sowie einen langen politischen und finanziellen Atem erfordert; alles Dinge welche unsere satten Wohlstandsgesellschaften nicht bereit sind zu investieren. Eine wirklich starke Performance kann man das, was geschehen ist, nicht nennen. Die Bürger mögen sich bei ihrer eigenen Nase nehmen, bevor sie ihre von ihnen gewählten Repräsentanten kritisieren. und sich im rechten Dreck suhlen.
ebo
8. September 2016 @ 14:52
@Nemschak Europäische Bodentruppen nach Syrien? Das kann nicht Ihr Ernst sein. Wären Sie auch bereit, Ihre eigenen Kinder in den Krieg gegen Assad und IS zu schicken? By the way, Erdogan würde das nicht erlauben…
Peter Nemschak
8. September 2016 @ 15:48
Vor einer Generation wurde der Vietnamkrieg von eingezogenen Wehrpflichtigen geführt. Die damalige amerikanische Gesellschaft war bereit, 500.000 Soldaten nach Vietnam zu schicken – ob sinnvoll oder, wie sich im nachhinein herausgestellt hat, eine Fehleinschätzung der weltpolitischen Lage, ist irrelevant. In unserer postheroischen Gesellschaft fehlt der Wehrwille. Es braucht Berufssoldaten und in zunehmendem Maß internationale Söldner, wie das amerikanische Beispiel zeigt. Durch Technologieeinsatz und Einsatz lokaler Kräfte werden im Kampf eigene Menschenleben so gut wie möglich geschont. Militärische Macht wird de facto durch wirtschaftliche Macht substituiert. Wenn meine Söhne Berufssoldaten wären, haben sie den Beruf aus freien Stücken mit all seinen Konsequenzen gewählt. Europa wird nie eine glaubwürdige Weltmacht sein, wenn es nicht bereit ist, auch Opfer dafür zu erbringen, seien es finanzielle und/oder menschliche. In Russland, das von vielen, die hier posten, glorifiziert wird, werden die Soldaten nicht gefragt, ob sie in Syrien kämpfen wollen. In China wäre es wahrscheinlich ähnlich.
Skyjumper
8. September 2016 @ 15:05
„weil der Aufbau einer demokratischen Gesellschaft in einer schwierigen Region sehr viel Zeit, wahrscheinlich eine Generation, sowie einen langen politischen und finanziellen Atem erfordert;“
Ja ja, hoch lebe die Renaissance des Imperialismus. Bereits mit Beginn des Industriezeitalters wollten französische, englische und deutsche Gutmenschen ja nicht anders als den armen Mohren ihr los zu erleichtern und sie in die moderne Zeit aufnehmen.
Es hat damals nicht geklappt, es klappt in den letzten 20 Jahren nicht, und es wird auch weiterhin nicht klappen. Man kann eine Gesellschaft die (aus welchen individuellen Gründen auch immer) mehrheitlich mit der Demokratie nichts am Hut hat, und auch nicht haben will, nicht in eine Demokratie transferieren und nachhaltig dort verorten. Das geht nur solange wie vor Ort Gewalt angewendet wird.
Es wäre schön wenn unsere neunmalklugen Tunichtgute in Europa und Amerika endlich mal begreifen würden das unser Wertesystem nicht das alleinig seeligmachende ist.
Peter Nemschak
8. September 2016 @ 15:49
Das hat mit Imperialismus nichts zu tun. Bei so einer Aufgabe gibt es nichts zu holen sondern viel hineinzustecken. Sicherheit hat ihren Preis.
Skyjumper
8. September 2016 @ 16:58
@Peter Nemschak
Sie argumentieren mit dem 6. Schritt (Sicherheit) vor dem 1. Schritt.
Tatsache ist doch, dass der Westen Wirtschaftsinteressen hat (Step 1), deshalb zu gesellschaftspolitischen Entwicklungen in Fremdstaaten zunächst eine Position bezieht (Step 2), diese Position sodann versucht mittels Wirtschaftsdruck, und/oder Wirtschaftssaktionen, und/oder Lobbyismus (NGO’s) und/oder militärischen Mitteln durchzusetzen (Step 3). Erst dann, in Folge dieser Vorgänge, kommt es in der Regel zu den massiven gesellschaftlichen Spannungen (Step 4) auf deren Nährboden Extremisten gedeihen (Step 5) die dann häufig auch unsere Sicherheit bedrohen (Step 6).
Und die Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen mittels gesteuerter Beeinflussung der Gesellschaften in Drittstaaten nennt man Imperialismus. Gut meinend kann man das Kind vielleicht noch Hegemonismus nennen.