Berlin streitet über EU-Schulden
Kaum vier Wochen nach dem “historischen” EU-Gipfel ist in Berlin ein offener Konflikt über den 750 Mrd. Euro schweren Corona-Hilfsfonds entbrannt. Kanzlerin Merkel und Finanzminister Scholz streiten über die EU-Schulden und künftige EU-Steuern.
“Der Wiederaufbaufonds ist ein echter Fortschritt für Deutschland und Europa, der sich nicht mehr zurückdrehen lässt”, erklärte SPD-Mann Scholz. Die EU werde auch künftig Schulden machen und müsse dies über eigene Ressourcen – sprich: Steuern und Abgaben – finanzieren.
Dem widersprach die CDU-Kanzlerin. Die Erlaubnis zur Schuldenaufnahme sei die Antwort auf “eine vorübergehende extreme Krise, zeitlich und hinsichtlich Höhe und Umfang klar begrenzt und zur Bewältigung dieser Krise ausgerichtet”, sagte ihr Sprecher. Es gehe um eine “temporäre Maßnahme”.
Temporär oder dauerhaft, begrenzt oder unbegrenzt – das ist nicht nur ein semantisches Schattenboxen, wie manch einer meint. Dahinter steht die Frage, ob die EU in der Wirtschafts- und Finanzpolitik ein Eigenleben entwickeln kann – oder ob sie am Gängelband der EU-Staaten bleibt.
Merkel will, dass die EU-Staaten die neuen Millairden-Schulden abstottern – wie, lässt sie offen. Im Zweifel könnte dies also auf Kosten des ohnehin knappen EU-Budgets gehen. Scholz will das nicht. “Wenn der Rettungsfonds zurückgezahlt werden muss, sollte das nicht zu Lasten des normalen EU-Haushalts gehen”, sagte er.
Deshalb seien eigene Ressourcen sinnvoll, etwa durch den Emissionshandel im Schiffs- und Luftverkehr, bei der Besteuerung der Finanztransaktionen oder von globalen digitalen Plattformen. Und deshalb sollen die Schulden auf Dauer gestellt werden – für künftige Krisen.
Der nächste Schritt wäre ein EU-Schatzamt
Der Streit betrifft nicht nur die Bundesregierung in Berlin, sondern auch Paris und die anderen EU-Regierungen. Präsident Macron hat sich bereits für eine Verstetigung der EU-Schulden ausgesprochen; der nächste logische Schritt wäre die Schaffung eines EU-Schatzamts.
Das käme sicher auch Kommissionspräsidentin von der Leyen entgegen – Merkels Parteifreundin bekäme so noch mehr Macht. Auch das Europaparlament könnte damit leben – wenn es ein Wörtchen mitzureden hätte. Bisher sind die Parlamentarier noch außen vor.
Doch sie müssen dem Corona-Fonds zustimmen, damit er zustande kommt – und dürften versuchen, mehr Kontrolle zu erhaschen. Am Donnerstag sollen die Beratungen beginnen. Man darf gespannt sein, ob der Streit auch CDU/CSU und SPD in Brüssel erfasst – und das während der deutschen Ratspräsidentschaft…
Siehe auch “Mit diesem Satz weckt Scholz große Hoffnung in Brüssel” und “Das Parlament muß für seine Rechte kämpfen”
Lutz Oest
25. August 2020 @ 18:17
Germany first !!!
Heinz Radzuweit
25. August 2020 @ 09:50
Ein weiterer Schritt zur Entmachtung der nationalen Parlamente. Es wird eine Spirale in Gang gesetzt, die an ein Schwarzes Loch erinnert und die gigantische Vermögensumverteilung sowohl beschleunigt wie noch intransparenter macht. Zur Befiredung der Gelben Westen und Erhalt des Renteneintritts in Frankreich mit 60 sollen der deutsche Michel eben bis 70 arbeiten, um das zu finanzieren. Zum Teufel mit dieser EU – die meisten Bürger in Europa wünschen sich Stärkung der Demokratie und keine Zentralisierung der Macht der korrupten Eliten mit einem WEF-Weltbild.
European
25. August 2020 @ 09:39
Wenn man 16 Jahre lang völlig unsinnige Schuldenhysterie gegen die Funktionsweise unseres Geldsystems befeuert hat, dann stolpert man irgendwann darüber. Scholz liegt hier m.E. richtig, weil er in der EU-Politik auf Macron zugeht und damit in Richtung Konvergenz, gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitk. Europa als Schutzzone und nicht als Spielplatz gnadenlosen Wettbewerbs. Dass sich die Länder während des Corona-Ausbruchs gegenseitig Schutzkleidung und Masken weggenommen haben, war ja nur ein Symptom für den Zustand der Union.
Nur mal ein Beispiel:
Deutschlands Versicherungssektor verfügt über ca. 950 Mrd. an Einlagen. Der Gesetzgeber schreibt vor, dass ca. 80% dieser Einlagen in Staatsanleihen (also Staatsschulden) angelegt werden sollen, weil die als ganz besonders sicher gelten. Deutschland hat ca. 90 Mio Lebensversicherungsverträge, was bedeutet, dass jedes Jahr Milliarden zu diesen bereits existierenden Milliarden hinzukommen – in einem Land, das keine Schulden mehr machen will. Es könnte absurder nicht sein.
Staatsverschuldung in reinen Konsum darf nicht sein. Staatsverschuldung in die Zukunft des Landes ist notwendig. Man darf die Länder nicht so auf Verschleiß fahren, dass die Schienen unbrauchbar sind, Brücke einsturzgefährdet sind und Schulen aussehen, wie ausgebombt. Es ist auch nicht einsehbar, warum Bürger sich nicht am Erfolg des Landes beteiligen sollen. Japan z.B. hat eine Staatsverschuldung von ca. 240% des BIP – ist aber überwiegend bei der eigenen Bevölkerung verschuldet und bei der Zentralbank, wo das nur in den Büchern steht.
Dieser Schuldenquatsch kommt aus der Finanzkrise. Statt den Finanzsektor zu regeln versucht man seit dem die Länder den Regeln des Finanzsektors anzupassen. Mit großem Misserfolg, wie man sieht. Trotz gemeinsamer Währung gibt es die Spreads. Eine Art Schutzgelderpressung.
Kleopatra
25. August 2020 @ 07:52
Die Vorstellung, einen selbständigen EU-Haushalt einzurichten, der aus eigenen, im Zweifel im „ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“ zu beschließenden Steuern gespeist wird und für den eigene Schulden aufgenommen werden können, bedeutet eine so radikale qualitative Veränderung des Charakters der EU, dass sie unbedingt eine Vertragsänderung größeren Ausmaßes voraussetzt. Beim Versuch, dies der politischen Öffentlichkeit in den Einzelstaaten schmackhaft zu machen, kann man jetzt schon viel Vergnügen wünschen; die Interessen, aber auch die soziale Situation unterscheiden sich zwischen den Staaten doch gravierend. Es dürfte in den meisten Staaten nicht ohne Volksabstimmung abgehen (möglicherweise selbst in Deutschland). Und es wäre mit so vielen Kompromissen und Rücksichtnahme auf Sonderinteressen bestimmter Staaten verbunden, dass wohl auch deutschen Sozialdemokraten bald der Spaß daran vergehen würde. Beispielsweise Kritik an bestimmten Staaten müsste man sich dann für mindestens zehn Jahre abschminken.
Was die Rückzahlung der jetzigen Sonder-Schuldenaufnahme betrifft, war m.W. bisher angedacht, dass die Mitgliedstaaten nach ihrem Anteil am EU-Haushalt dazu beitragen sollen. Insofern ist das schon mehr oder weniger klar. Und freilich ist jetzt schon absehbar, dass es zu Lasten des normalen EU-Haushalts geht, der zur Kürzung bereit steht, weil gerade die Haushaltsverhandlungen fällig sind.