Alle Sicherungen durchgebrannt
Langsam legt sich der Pulverdampf im Fall Skripal. Nach anfänglichem Zögern hat sich nun doch noch eine Mehrheit der EU-Staaten gegen Russland gestellt. Deutlich wird aber auch, dass alle Sicherungen durchgebrannt sind.
“Es werden mehr. Insgesamt wollen jetzt 18 EU-Staaten russische Diplomaten ausweisen”, freut sich die “Deutsche Welle”. Die britische “Times” veröffentlicht sogar eine Art Hitliste mit der Zahl der Ausweisungen.
Die USA “führen” mit 60 zurückgeschickten russischen Diplomaten. “Politico” scheint das nicht zu reichen. Das Brüsseler Portal macht gleich noch ein paar Vorschläge, wie man Russland noch härter treffen könnte.
Von “Target the boss” bis “Try the military option” reicht die Palette, die an (verbotene) Kriegstreiberei grenzt. Wie schön, dass Kanzlerin Merkel und US-Präsident Trump sich jetzt ganz eng abstimmen!
Merkel wäre allerdings besser beraten gewesen, sich erst einmal an die EU-Regeln für die Außenpolitik zu halten. Die sind nämlich ausgehebelt worden, in Brüssel sind im Fall Skripal alle Sicherungen durchgebrannt.
Das fängt schon damit an, dass die EU-Kommission übergangen wurde. Deren Chef Juncker hatte sich für ein Ende der Eiszeit mit Russland ausgesprochen. Er verlor den Machtkampf mit Ratspräsident Tusk.
Tusk wiederum hat sich über den EU-Vertrag hinweggesetzt. Der sieht in strategischen Grundsatzfragen Einstimmigkeit vor. Es hat jedoch nie eine Abstimmung über Sanktionen gegeben, nur eine Solidaritäts-Erklärung.
Doch selbst dabei wurden die Regeln mißachtet. Laut EU-Vertrag ist Solidarität nämlich genau definiert. Es gibt dafür zwei Vorschriften: Artikel 222 oder Artikel 42, der nach den Terroranschlägen von Paris ausgelöst wurde.
London hat die EU-Regeln umgangen
London hat es jedoch sorgfältig vermieden, die offiziellen Solidaritätsmechanismen in Gang zu setzen. Stattdessen wurden Tusk und Merkel gedrängt, andere, schnellere Wege zu suchen. Die hat man auch gefunden.
Am Ende gab es weder einen Sanktions-Beschluss noch ein Solidaritäts-Verfahren, sondern nur abgestimmte nationale Maßnahmen. Deshalb lag es auch an den einzelnen EU-Staaten, mitzumachen – oder nicht.
Doch die “Verweigerer”, die man früher Tauben genannt und für ihre Weitsicht gefeiert hätte, wurden nicht in Ruhe gelassen. Nein, sie wurden – und werden – unter Druck gesetzt. Gerade wird Österreich bearbeitet.
Auch in Berlin lief es nicht korrekt
Im Ergebnis müssen sich nicht jene rechtfertigen, die EU-Recht umgangen haben – sondern jene, die sich an das Recht und den gesunden Menschenverstand halten und auf Beweise warten wollen.
Dabei sind übrigens auch im sonst so Regel-versessenen Deutschland alle Sicherungen durchgebrannt. Der neue Außenminister Maas (SPD) hat zwar alles abgenickt, doch die Entscheidung fiel im Kanzleramt.
Die SPD und ihre Außenpolitiker (Maas ist nun wirklich keiner) haben das Nachsehen – wie immer in einer GroKo mit Merkel. Nur, dass es so schnell gehen würde, hat wohl niemand gedacht…
Dixie
30. März 2018 @ 14:52
Toller Artikel! Nagel auf den Kopf auf den Punkt.
.
Jetzt kann endlich der oben liegende Stapel erneuter Gesetzesverschärfungen zur Bevölkerungsüberwachung in UK und der Welt geschmeidig abgewickelt werden.
Die Budgets für Brittanias glorreiche Armee und zahlreiche staatliche und private James Bond Agenturen steigen unwidersprochen. Und dieser die Umfragen anführende Dreckskommunist Corbyn kriegt ma endlich den Gegenwind, den die schalldichten Keller Washingtons fordern, seitdem sie den zum ersten mal sahen!
“Hallo, WIR wurden gerade chemisch angegriffen” schallt es aus den solidarischen EU-Radios, “zweifellos stehen der edlen NATO nun erheblich MEHR von euren Groschen zu!”
Kann denn eigentlich ein einziger der Kommentierenden bestätigen, daß die Skripals wirklich im Spital liegen?
Von all den false flags, die in den letzten Jahren in Europa inszeniert wurden, ist das die mit Abstand bescheuertste und bislang folgenreichste.
Es ist einigermaßen traurig, die Begriffsstutzigkeit vieler angeblich mündiger MitbürgerInnen und informierter ZeitgenossInnen so vorgeführt zu bekommen.
Es ist andererseits sehr ermunternd festzustellen, das inzwischen ein zur Mehrheit gewachsener und weiter wachsender Teil der Menschen nicht mehr auf die Repeat-Schleifen der McMedien hereinfallen.
Frohe und friedliche Ostern ihr alle. Man sieht sich beim Friedensmarsch am Samstag.
Pax.
Arnold Voss
30. März 2018 @ 10:08
Wer bei einem so abgezockten Strategen, Autokraten und Oligarchen wie Putin danach geht, was man ihm beweisen kann, ist entweder gutgläubig, oder er will sein Freund werden. In dubio pro reo gilt zu recht vor Gericht. In der realen (politischen) Welt gelten die praktischen Erfahrungen, die man mit Jemanden gemacht hat, und was d i e Informanten einem dazu sagen, die man s e l b s t kontrollieren kann.
ebo
30. März 2018 @ 11:14
@A.V. Richtig, in der Politik zählen die praktischen Erfahrungen. Ich würde da auch den britischen Falkland-Krieg und Blairs Lügen im Irakkrieg ins Feld führen. Und dann natürlich Mays unsägliche Manöver beim Brexit. Ergebnis: auch London ist nicht (sehr) glaubwürdig…
Michael Skoruppa
3. April 2018 @ 19:54
Wie Churchill schon sagte: Ich glaube nur die Statistiken, die ich selbst gefälscht habe. So sind sie nun mal, die bourgeoisen Briten.
Schwarz, Christa
30. März 2018 @ 01:20
es ist erschreckend, was für ein shitstorm gegen Russland läuft. Die Unschuldsvermutung wird erst einmal ausgehebelt und inzwischen Sanktionen gegen diesen Staat durchgesetzt. Hier läuft etwas ganz schief. Von Staaten, welche gegen Andersdenkende mit Tod und Zerstörung vorgehen, wird damit gezielt abgelenkt. Damit wird Europa gespalten und die Stärke dramatisch geschwächt. Wer hat davon Vorteile? Die deutsche Regierung muss mit Russland ins Gespräch kommen und weitere Eskalationen verhindern. Sonst ist Europa nicht mehr zu helfen.
Argonautiker
30. März 2018 @ 08:33
“Die Unschuldsvermutung wird erst einmal ausgehebelt…”
Vor allen Dingen hat es sich bewahrheitet, daß wenn Regierungen erst einmal anfangen sich gegen Andere Staaten so zu verhalten, es nicht mehr lange dauert, das auch im Innland so zu vollziehen.
SSiehe neues Polizeigesetz von Bayern. Letztendlich darf man ihnen in Bayern schon wieder die Türe eintreten auch wenn es noch nicht mal einen Verdacht zu irgendwas gibt, und andere Länder wollen nachziehen.
Man hat gewählt.
Argonautiker
29. März 2018 @ 22:27
Nun, was könnte es denn bedeuten, wenn man so vehement und ohne die internationalen Regeln zu beachten gegen Rußland auf Linie bringt?
Passt doch ganz gut, wenn man zu Ostern wie einst das imperealistische Rom, den Frieden von der Welt nimmt und als neuer Imperealist in den Kreuzweg einleitet.
Oudejans
29. März 2018 @ 22:57
>>“Nun, was könnte es denn bedeuten, …“
Daß man Berlin rechtzeitig verlassen sollte…
Pique Dame
29. März 2018 @ 20:32
Und da wundert man sich über schwindende Akzeptanz in der Bevölkerung in Sachen EU.
Merkel agiert in der EU nach Gutsherrenart. Wie oft hat sie für unterschiedliche Probleme unterschiedliche Formate ins Leben gerufen! Das ärgert immer diejenigen, die nicht dabei sind. Und jetzt das Format Merkel/Trump/Tusk? Chaos!
Am Ende heißt es dann aber wieder: Putin spaltet die EU.
Peter Nemschak
29. März 2018 @ 15:43
@ebo Sie haben einen Merkelkomplex bzw – allergie und ärgern sich über die SPD und deren rechten Flügel. Ob Sanktionen gegen Russland sinnvoll sind oder nicht ist Gegenstand der Debatte in der Öffentlichkeit und keine ausgemachte Sache. Die gemeinsame Außenpolitik gab es bisher nur am Papier. Etliche EU-Länder haben die Sanktionen nicht mitgetragen. Außenpolitik findet selten Einstimmigkeit unter den 28 Mitgliedsstaaten. Die Stellung der EU-Außenbeauftragten ist, das wissen wir, schwach und stellt bestenfalls eine Absichtserklärung für eine besser koordinierte Außenpolitik dar.
ebo
29. März 2018 @ 17:09
@Nemschak Da wird ein Kalter Krieg mit Russland vom Zaun gebrochen, jenseits des EU-Rechts, und Sie reden von Merkelkomplex? – Erklären Sie mir lieber mal, warum Österreich bei den von Ihnen offenbar befürworteten Aktionen nicht mitmacht. Oder Luxemburg, wo der letzte sozialdemokratische Außenminister sitzt…
Oudejans
29. März 2018 @ 18:25
>>“Oder Luxemburg, wo der letzte sozialdemokratische Außenminister sitzt…“
LUX wird interessant, insofern, ob es bei dieser Haltung bleibt. –
Seit geraumer Zeit läuft in der EU etwas gewaltig schief. Und das ist milde gesagt.
Peter Nemschak
30. März 2018 @ 10:57
Dass Österreich nicht mitmacht, hat mehrere Gründe: unsere Rechten haben stets eine Affinität zu autoritären Staaten gehat. Der Wirtschaftsflügel der konservativen ÖVP ist vordringlich am Außenhandel mit Russland interessiert, die SPÖ von der Bühne abgetreten. Auch die traditionelle österreichische Neutralität zwischen Ost und West spielt nach wie vor eine Rolle. Der Kalte Krieg ist eine unzutreffende Metapher für das, was derzeit auf der Welt läuft. Es geht heute um die Neuordnung der Macht zwischen den Großmächten, nicht um die ideologische Frage ob Kapitalismus oder realer Sozialismus überlegen seien. Der Kapitalismus ist, weltweit von allen anerkannt, zum gesellschaftlichen “Industriestandard” geworden. Das Erklärungsmodell des Realismus ist nach wie vor für das Verhältnis zwischen Staaten relevant. Darüber kann auch die Vielzahl der nichtstaatlichen Akteure nicht hinwegtäuschen. Im übrigen hat interessanterweise auch Italien bei den Russlandsanktionen mitgemacht. Deshalb verstehe ich Ihre Aufregung nicht. Das Europa, das Sie sich wünschen, bleibt Wunschdenken in den Köpfen mancher Intellektueller und linker Parteistrategen. Die Realität sieht anders aus. Man soll sie nicht schlechter machen als sie ist.
Peter Nemschak
29. März 2018 @ 14:46
Muss eine ad hoc Entscheidung dieser Art aus rechtlicher Sicht nach den Regeln des EU-Vertrags erfolgen oder genügt es, dass sich einige EU-Mitgliedsstaaten mit anderen (USA, Australien) zusammentun und sich für Sanktionen autonom entscheiden? Warum sollte sich die SPD, außer ihr linker Flügel, anders entscheiden?
ebo
29. März 2018 @ 14:55
Es gibt im EU-Vertrag keine Koalition der Willigen. Warum hat Paris die Solidaritäts-Klausel ausgelöst, London aber nicht?
Peter Nemschak
29. März 2018 @ 14:57
Das mag sein. aber sie ist auch nicht untersagt.
ebo
29. März 2018 @ 15:35
Wir erleben nicht anderes als die Aushebelung der EU-Regeln für die gemeinsame Außenpolitik und den Ausfall aller rechtlichen und politischen Sicherungen, auch in Deutschland. Wofür brauchen wir noch eine EU-Außenbeauftragte, wozu einen deutschen Außenminister? Eigentlich ist ja auch die GroKo (also die SPD) entbehrlich, Merkel macht schon alles richtig…