Die Zurichtung Europas
Ist Deutschland die neue Führungsmacht in Europa? Und wenn ja, wie ist es dazu gekommen? Kurz vor der Bundestagswahl lebt diese Debatte wieder auf – in Essays, Büchern und Podiumsdiskussionen. Dummerweise gehen die meisten Experten von falschen Prämissen aus.
Das jüngste Beispiel lieferte der britische Historiker T. Garton Ash. In einem Beitrag für die “New York Review of Books” befasst er sich mit der “neuen deutschen Frage”.
Wie viele Autoren vor ihm geht auch Ash davon aus, dass Berlin die Führungsrolle zufällig in den Schoß gefallen sei, und dass die übrigen EU-Staaten der nächsten Bundesregierung helfen sollten, ein neues, schöneres Europa zu bauen.
Das klingt gut, geht aber an den Fakten vorbei. Zwar hat Kanzlerin Merkel zu Beginn ihrer Amtszeit wohl keine Führungsrolle angestrebt. Zunächst ließ sie sich eher widerwillig treiben.
Doch schon bald hat die Krise bewusst und zielstrebig genutzt, um die EU nach dem deutschen “Modell” umzubauen und auf deutsche Wirtschafts-Interessen zuzurichten.
Hier die wichtigsten Wendepunkte, die selbst Experten und Essayisten gerne übersehen:
- Gleich zu Beginn der Krise hat Merkel die EU entmündigt, indem sie ohne Not den IWF mit ins Boot holte. Die EU-Kommission hat sich von diesem Schlag bis heute nicht erholt, das Europaparlament wurde ausgegrenzt.
- Kurz danach setzte sie sich über alle Experten – auch die des IWF – hinweg, die vor den fatalen Folgen eines Schuldenschnitts in Griechenland warnten. Die Folge: Italien und Spanien gerieten in den Krisenstrudel, die ganze Welt starrte fortan auf Berlin.
- Merkels Fiskalpakt ist ein weiterer Schritt zur Zurichtung Europas. Er folgt dem deutschen Modell der Schuldenbremse und schafft eine Parallel-Union neben der EU. Für den Beschluss wurde Großbritannien ausgebootet.
- Kurz nachdem Frankreichs Ex-Präsident Sarkozy den Fiskalpakt abgenickt hatte, wurde auch er von Merkel ausgebootet. Berlin schmiedete ein neues Bündnis mit den “AAA”-Staaten Finnland und Holland, das fortan die Eurogruppe regierte.
- Das zweite Halbjahr 2012 verwandte Merkel dafür, missliebige EU-Beschlüsse zur Bankenunion und zur neuen, “vollständigen” Währungsunion rückgängig zu machen. Der Masterplan der EU-Präsidenten wurde auf ihren Wunsch einkassiert.
- Derzeit läuft die bisher letzte und umstrittenste Phase der Zurichtung: über den geplanten Wettbewerbspakt sollen alle Euroländer dem deutschen Modell der Agenda 2010 folgen. Ob das klappt, wird sich nach der Bundestagswahl zeigen.
Der deutsche Aufstieg zur Hegemonialmacht ist also alles andere als ein Zufall – auch wenn es wohl keine fertige Strategie dafür gab. Ebenso wenig ist es ein Zufall, dass die EU heute schwächer denn je dasteht.
Vor allem die neuen Parallel-Strukturen Troika, ESM und Fiskalpakt schwächen die Union. Hier gelten nicht die Regeln der Gemeinschaft, hier gibt Deutschland hinter dem Rücken der EU-Politiker den Ton an.
Das sollte auch Garton Ash bedenken, wenn er fordert, Europa eine “neue institutionelle Architektur” zu geben. Bisher sind alle entsprechenden Vorstöße – und davon gab es viele – am Nein der Kanzlerin gescheitert.
Gleichzeitig hat Merkel heimlich, still und leise am Umbau Europas nach dem deutschen “Modell” gearbeitet – allerdings ohne auf EU-Ebene die dazugehörigen starken Institutionen (Bundesbank, Bundestag, Bundesverfassungsgericht) zu schaffen.
Auch dies ist kein Zufall. Merkel redet zwar gelegentlich von “mehr Europa”, doch in der Praxis meint sie “mehr Deutschland”…
Siehe zu diesem Thema auch: “Deutsches Europa” und “Mehr Deutschland, weniger Europa”
Rudi
30. August 2013 @ 08:26
Zitat:
“Derzeit läuft die bisher letzte und umstrittenste Phase der Zurichtung: über den geplanten Wettbewerbspakt sollen alle Euroländer dem deutschen Modell der Agenda 2010 folgen. Ob das klappt, wird sich nach der Bundestagswahl zeigen.”
Das kann nicht klappen.
Siehe auch hier:
http://www.geldsystempiraten.de/wp/populare-irrtumer-die-sache-mit-der-wettbewerbsfahigkeit/
Wolfgang
29. August 2013 @ 14:54
Ich frage mich, welches Interesse Frau Merkel leitet.
Die Deutschen haben aufgrund des Euros ca. 30 % ihrer Kaufkraft verloren (der deutsche Euro bzw. die DM sind etwa 30 % mehr wert als der Durchschnittseuro, da die Wechselkurse aber künstlich gleich gehalten werden, bekommen die Deutschen nur den Durchschnittseuro). Zusätzlich hat Deutschland über 1,2 Bio. Euro im Feuer (Target2 und Rettungspakete).
Die Geretteten leiden nach der Gelddusche zu Lasten Deutschlands ebenfalls, denn sie sollen sparen und zurückzahlen. Doch das geht nicht. Aus Sicht der betroffenen Länder und Deutschlands eine Fehlinvestition (Bauruinen in Spanien, unbefahrene Autobahnen in Europa…). Die griechischen Erdölreserven sind im Zugriff von US-Firmen..
Gewonnen haben die USA, die nun im Euro keinen Gegner mehr haben und mittels Deuschland ganz Europa steuern können.
ebo
29. August 2013 @ 15:48
Ich glaube, dass sich Merkel im wesentlichen von den Interessen der großen deutschen Konzerne leiten lässt. Dafür spricht auch die aggressive Industriepolitik und die vehemente Verteidigung von Konzerninteressen gegenüber der EU. Zuletzt hat sie sogar ein Beihilfeverfahren gegen das EEG verhindert…
GS
29. August 2013 @ 13:08
Wie kann ein Land wie Deutschland, mit dieser katastrophalen Demographie und gemessen an der Eurozone oder gar der EU viel zu geringen Größe (Anteil an Bevölkerung, Wirtschaftsleistung etc.) denn bitte schön Hegemonialmacht sein? Das ist doch alles Propaganda. Wenn die Südstaaten, Frankreich und andere wollten, könnten sie dank ihrer Dominanz in den EU-Institutionen jederzeit eine andere Politik durchsetzen.
Ich würde mir eher mal darüber Gedanken machen, wie sich die vermeintliche Hegemonie eigentlich mit Deutschlands Status als US-Protektorat verträgt.
ebo
29. August 2013 @ 13:18
@GS
Gute Frage. Es wurde möglich, weil ESM und Fiskalpakt neben der EU geschaffen wurden. Seither kann Deutschland per Veto alles blockieren, was unseren Euro”Rettern” nicht passt. Und von diesem Vetorecht hat Merkel mehr als genug Gebrauch gemacht. Lässt sich alles in diesem Blog nachlesen… – Was das US-Protektorat betrifft: einmal hat Washington ja schon ein Machtwort gesprochen. Als Obama die deutsche “Grexit”-Debatte zu bunt wurde, hat er Merkel gestoppt. Sie reiste dann nach Athen und versprach, alles zu tun, um Griechenland zu “retten”. Allerdings versucht sie im Wahlkampf schon wieder, das vergessen zu machen…