Sollbruchstelle Sozialdemokratie
Ganz EUropa blickt an diesem Wochenende nach Bonn. Der Parteitag der SPD möge grünes Licht für die GroKo geben, hoffen viele EU-Politiker. Dabei müssten sie eigentlich wissen, wie zwiespältig die Entscheidung ist.
Damit meine ich nicht nur die Wahl zwischen Pest und Cholera, die SPD-Chef Schulz sich und seinen Genossen aufgegeben hat: Sagen sie Ja, verlieren sie Stimmen – sagen sie Nein, verlieren sie die Macht.
Ich meine den Niedergang der Sozialdemokratie in ganz EUropa. Er war zwar nicht immer von so dramatischen Entscheidungen geprägt wie jetzt in Bonn, dafür waren die Konsequenzen oft noch härter.
So sind die Sozis in Griechenland infolge der Euro-“Rettung” von der Bildfläche verschwunden. Auch in den Niederlanden hat es die Genossen weggefegt – dabei haben sie (wie Ex-Eurogruppenchef Dijsselbloem) immer brav getan, was Mutti sagte.
In Belgien sind die Sozialdemokraten in der Opposition, in Großbritannien und in Spanien auch. In Italien hat es sie zerrissen, in Frankreich wurden gleich auch noch die Gewerkschaften paralysiert.
Fast überall ist der Niedergang mit dem Aufstieg der Nationalisten, Populisten und EU-Gegner verbunden. Dabei ist es nicht einfach so, dass die Wähler von links nach rechts abgewandert wären.
Es ist vielmehr die Politik der bürgerlichen Mitte, also vor allem der “führenden” Kanzlerin Merkel, der die Arbeitnehmer und das traditionelle linksliberale Milieu aufgerieben und gespalten hat.
Grob vereinfacht gesagt, könnte man behaupten, dass die neoliberale Politik der Liberalisierung und Globalisierung die Sozialdemokraten am härtesten trifft – sie sind zur Sollbruchstelle geworden.
Bisher sah es so aus, als würde dieser Trend Deutschland verschonen – weil Schland nun ‘mal der größte Gewinner in der EU ist. Doch nun könnte es ausgerechnet das größte EU-Land am härtesten treffen.
Und zwar nicht nur bei Schulz & Genossen, sondern auch im Zentrum der Macht, im Berliner Kanzleramt. Denn mit wem soll Kanzlerin Merkel noch regieren, wenn nicht mit den Sozis?
Peter Nemschak
21. Januar 2018 @ 21:07
Warum sind soziale Utopien, wie sie die Linken in der SPD hegen, nicht auszurotten? Alles in der letzten 5000 jährigen Geschichte der Menschheit spricht gegen sie?
kaush
21. Januar 2018 @ 17:22
Jetzt hat sich die SPD (erwartbar) dazu entschieden, mit ihrer alten dümmlichen Führung in den Untergang und die Bedeutungslosigkeit zu marschieren.
Projekt 15…
kaush
20. Januar 2018 @ 13:17
Sorry ebo, aber das ist doch eine merkwürdige Verschwörungstheorie.
Die Sozialdemokratie zerstört sich selbst. Und warum, dass wusste man schon vor knapp hundert Jahren. Bis heute hat sich daran nichts geändert.
Wunderbar auf den Punkt gebracht von Kurt Tucholsky:
An einen Bonzen
Einmal waren wir beide gleich.
Beide: Proleten im deutschen Kaiserreich.
Beide in derselben Luft,
beide in gleicher verschwitzter Kluft;
dieselbe Werkstatt – derselbe Lohn –
derselbe Meister – dieselbe Fron –
beide dasselbe elende Küchenloch …
Genosse, erinnerst du dich noch?
Aber du, Genosse, warst flinker als ich.
Dich drehen – das konntest du meisterlich.
Wir mußten leiden, ohne zu klagen,
aber du – du konntest es sagen.
Kanntest die Bücher und die Broschüren,
wußtest besser die Feder zu führen.
Treue um Treue – wir glaubten dir doch!
Genosse, erinnerst du dich noch?
Heute ist das alles vergangen.
Man kann nur durchs Vorzimmer zu dir gelangen.
Du rauchst nach Tisch die dicken Zigarren,
du lachst über Straßenhetzer und Narren.
Weißt nichts mehr von alten Kameraden,
wirst aber überall eingeladen.
Du zuckst die Achseln beim Hennessy
und vertrittst die deutsche Sozialdemokratie.
Du hast mit der Welt deinen frieden gemacht.
Hörst du nicht manchmal in dunkler Nacht
eine leise Stimme, die mahnend spricht:
»Genosse, schämst du dich nicht –?«
Theobald Tiger
Die Weltbühne, 06.09.1923, Nr. 36, S. 248,
ebo
20. Januar 2018 @ 16:32
Na klar, Theobald Tiger ist auch heute wieder aktuell. Aber dazwischen hatten wir ein “sozialdemokratisches Zeitalter”, das teilweise bis in die Nullerjahre reichte. Mit der neoliberalen “neuen Mitte” von Blair und Schröder begann dann der Niedergang. Merkel hat den Kurs weiter verfolgt und ganz EUropa verschrieben, teilweise mit struktureller Gewalt in Gestalt der Troika. Das Ergebnis ist bekannt.
Schubert
20. Januar 2018 @ 10:15
Bei allen richtigen Protesten, der Parteitag wird sich für die Große Koalition entscheiden. Daran hängen mindestens 5 Ministerposten, 13 Staatssekretäre und ihr Umfeld. Sie hätten ihre politische Perspektive verloren. Daher versprechen sie dem Parteivolk, im Himmel ist Jahrmarkt.
ebo
20. Januar 2018 @ 11:26
Es geht nicht nur um ein paar Posten, sondern um die Macht. Ich rechne mit einem entschiedenen “Ja, aber”. Spannend wird es dann bei der Mitgliederbefragung!
Peter Nemschak
19. Januar 2018 @ 16:55
Sagen sie nein, verlieren sie beides. Warum sollten sie bei Neuwahlen gewinnen?
ebo
19. Januar 2018 @ 17:01
Wenn es Neuwahlen gibt, dann wohl ohne Schulz, vielleicht auch ohne Merkel. Dann werden die Karten neu gemischt, niemand kennt das Ergebnis. Die gängige These, dass Neuwahlen genau dasselbe Ergebnis bringen würden wie im letzten Herbst, lässt sich nicht halten.
hintermbusch
19. Januar 2018 @ 17:16
@ ebo
Guter Kommentar. Vor allem würde ein Sturz von Schulz und Merkel auch Seiteneffekte bei den kleineren Parteien auslösen. Ich bin mir sehr sicher, dass es zu erheblichen Unterschieden im Vergleich zum 24.9.2017 käme.
Diese Karikatur bringt schön zum Ausdruck, dass es unter der Oberfläche anders aussieht:
https://pbs.twimg.com/media/DTrKvUqXcAIWLw0.jpg
Große Zuwächse für die SPD sind aber eher unwahrscheinlich