Reform! Reform? Welche Reform?
In Brüssel ist das Reformfieber ausgebrochen. Neben den Plänen für eine “echte” Wirtschaftsunion werden nun auch Vorschläge für eine “effiziente” EU und eine “schlagkräftige” Außenpolitik diskutiert. Gestern meldeten sich Kommissionschef Barroso, Außenminister Westerwelle und der britische Ex-Premier Blair zu Wort. Kleinster gemeinsamer Nenner: so wie bisher kann es nicht weitergehen.
Die EU steht, nur drei Jahre nach dem angeblich “endgültigen” Lissabon-Vertrag, vor einem Scherbenhaufen. Diesen Schluss legen die zahlreichen Reformpläne nahe, die mittlerweile bald täglich in Brüssel eingehen. Sollten sie tatsächlich umgesetzt werden, würde kein Stein auf dem anderen bleiben. Allerdings passen auch die Puzzlestücke, die jetzt präsentiert werden, kaum zueinander.
Barroso ruft: Eurobonds! Westerwelle antwortet: nicht mit mir! Van Rompuy ruft: eine echte Wirtschaftsunion mit Bankenunion jetzt! Merkel ruft: Eile hat Weile! Blair ruft: Europa braucht eine neue “Erzählung”, nach Peace kommt Power! Cameron ruft: wir wollen keine Großmacht EU! Westerwelle ruft: wir brauchen eine gemeinsame Außenpolitik! Merkel ruft: aber keine Anerkennung Palästinas!
Bis 2017 wird die EU zur Großbaustelle
Wie aus diesem Durcheinander ein schlüssiges Ganzes werden soll, ist rätselhaft. Nur der Zeitplan scheint sich langsam zu klären. Bis zur Europawahl 2014, so Barroso, will man sich weiter durchwurschteln, ohne neuen EU-Vertrag. Spätestens in fünf Jahren soll es allerdings so weit sein, denn dann soll der Fiskalpakt in das EU-Recht integriert werden, heißt es in seinem Entwurf. 2017 blüht uns also der Nachfolger des Lissabon-Vertrags, danach soll sogar noch eine Vertragsänderung folgen, weil’s so schön war… Die EU wird zur Dauerbaustelle, genau wie Brüssel.
Fest steht wohl auch schon, dass das neoliberale Fundament des neuen Bauwerks nicht mehr angetastet wird. Im Gegenteil: Folgt man Barroso und Van Rompuy, soll es durch so genannte “Reformverträge” zementiert werden. Von Brüssel oktroyierte Strukturreformen drohen künftig nicht nur in Krisenländern, sondern in der ganzen Eurozone, vielleicht sogar Deutschland. Und sie können auch nicht mehr rückgängig gemacht werden, da es ja (wie beim Fiskalpakt) um Verträge geht …
Reformen müssen von unten kommen
Damit wird der Reformgedanke in sein Gegenteil verkehrt. Echte Reformen müssen seit Martin Luther von unten kommen, genau wie eine neue “Erzählung” über Sinn und Zweck der europäischen Einigung. Sie können nicht von oben verordnet werden – schon gar nicht per Vertrag, der zwischen den Eliten ausgehandelt wird. Das zumindest sollte man doch aus den letzten Debakeln gelernt haben…
ebo
30. November 2012 @ 09:48
@marty Tja die Verfassung. Die wird dann auch geändert, Schäuble hat es ja schon angekündigt. Das ist genau das Problem mit diesen Reformen: Sie werden in Berlin und Brüssel konzipiert, zunächst auf einer abstrakten Ebene. Dann werden sie beschlossen – und die EU-Länder müssen umsetzen. Die Befragung der Bürger kommt dann – vielleicht – ganz zum Schluss, wenn man schon vollendete Tatsachen geschaffen hat…
marty
30. November 2012 @ 03:23
Was für eine neoliberale Horror-Vorstellung! − Das deutsche Grundgesetz ist ja in seiner ökonomischen Ausrichtung ziemlich neutral − sogar mit Tendenz in Richtung “sozialdemokratisch” (vgl. Art. 14 GG: “Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.”).
Und hier im Königreich Bayern haben wir vermutlich die ökonomisch “linkeste” Landesverfassung überhaupt. Kostprobe: “Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl, insbesonders der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle und der allmählichen Erhöhung der Lebenshaltung aller Volksschichten. […] Gemeinschädliche und unsittliche Rechtsgeschäfte, insbesonders alle wirtschaftlichen Ausbeutungsverträge sind rechtswidrig und nichtig.” (http://www.gesetze-bayern.de/jportal/portal/page/bsbayprod.psml?nid=4v&showdoccase=1&doc.id=jlr-VerfBY1998pArt151&st=null ).
Und jetzt wollen Merkel und Co. die absurde neoliberale Ideologie für immer in der EU-Verfassung verankern …
Im Rahmen der deutschen Anti-Hellas-Hetze wird ja von den Griechen immer wieder “Vertragstreue” eingefordert. Und es stimmt, “pacta sunt servanda” ist ein uraltes Rechtsprinzip. Doch ausgerechnet deutsche Juristen haben im letzten Jahrhundert ein notwendiges Korrektiv zur “Vertragstreue” entwickelt: den “Wegfall der Geschäftsgrundlage”.
Die Südeuropäer sollten sich ernsthaft fragen: Ist dieses neoliberale Gefängnis immer noch die EU (bzw. damals: EG), in die wir einst − jung und unschuldig − eingetreten sind?
melina
30. November 2012 @ 01:57
Erstaunlich an diesen “Reformen” ist die Eile, mit der sie plötzlich betrieben werden sollen. Als habe man Angst, die Völker Europas könnten sich gewaltig – ja, auch mit Gewalt – dagegen auflehnen, noch bevor das neoliberale Fundament gegossen ist.
Gar nicht erstaunlich sind die Worte von Blair, dem marktradikalen Pseudo-Sozialisten, die er vorgestern bei der Veranstaltung “Business for New Europe” abgesondert hat. Als ob er, zusammen mit seinem Kumpel Schröder, nicht schon genug Unheil angerichtet hätte, forderte er ganz unverhohlen: “The European social model has to change radically for Europe to prosper.” Und weiter: “And here there is no doubt that Europe needs fundamental, far reaching reform. Many of those
reforms are precisely what the UK has been arguing for, like reform of the social model. It should be pointed out that these reforms are partially being made. Spain’s labour costs have declined substantially since the crisis began. Italy has grasped crucially important reforms in areas like pensions. Greece has cut spending by a bigger amount proportionally than any country in Europe since the War.” Wenn ich sowas lese, dann kann ich nur noch in bestem Filser-Englisch sagen: “It runs me icecold the back down!”
Diese Vorstellungen sind es, die den überzeugten Europäer, der sich ein soziales Europa vorgestellt hat, verzweifeln lassen. Es ist geradezu paradox, dass aus-gerechnet das fortschrittliche europäische Sozialmodell einer abstrusen Reform zum Opfer fallen, sprich abgeschafft werden soll, während die verfilzten Strukturen der Finanzwirtschaft zum Gerüst des neuen Europa weiter ausgebaut werden. Nein, es klingt nur paradox, denn es entspricht haargenau der neoliberalen Logik: Europa
als riesiges Finanzimperium mit 500 Millionen bettelarmer Sklaven.
Ja, Reformen müssen von unten kommen, und zwar subito! Bevor diese durch-geknallten Europa-Architekten mit ihren Reformbaggern anrücken und alles platt machen, was sich Millionen von Menschen in Jahrzehnten mühsam erkämpft haben.
Und wenn Merkel nun den Traktor gegen einen Bagger tauscht, dann ist echt höchste Eile geboten!
ebo
29. November 2012 @ 21:27
@johannes Die Idee mit den Vertragsänderungen, und Reformverträgen kommt – wieder einmal – von Merkel. Sie nutzt die Krise, um die EU und den Euro nach ihren Vorstellungen umzubauen. Doch die Bürger vertrauen ihr weiter – auch wenn dies ihre Mitwirkungsmöglichkeit dauerhaft beschneidet. Merkwürdig…
Johannes
29. November 2012 @ 18:24
“Sie können nicht von oben verordnet werden – schon gar nicht per Vertrag, der zwischen den Eliten ausgehandelt wird. Das zumindest sollte man doch aus den letzten Debakeln gelernt haben…” – ein schöner Satz, aber ob ihn CDU/FDP/SPD/GRÜNE wirklich verstehen können und WOLLEN? Von Brüssel ganz zu schweigen.