Rechtsstaat: Reynders hat ein Problem
Wie geht es weiter im Streit um den Rechtsstaat in Polen und Ungarn? Das ist auch nach der Anhörung des designierten Justizkommissars Reynders unklar. Fest steht nur, dass er künftig alle EU-Staaten beurteilen will.
Die neue EU-Kommissionschefin von der Leyen steht unter einem bösen Verdacht: Sie wolle es mit dem Rechtsstaat nicht so ernst nehmen wie ihr Amtsvorgänger Juncker, argwöhnen Kritiker.
Schließlich verdankt Leyen ihre Wahl nicht zuletzt Ungarns Regierungschef Orban. Sogar Kanzlerin Merkel hat um Orbans Zustimmung geworben, zuletzt kurz vor der Wahl im Europaparlament.
Auch die Nominierung der Tschechin Jourava zur Kommissarin für “Werte und Transparenz” sorgt für Stirnrunzeln. Immerhin stellt von der Leyen ihr den Belgier Reynders zur Seite – als Justizkommissar.
Der hat nun sein Programm vorgestellt – und versucht, die Sorgen zu zerstreuen. Künftig würden nicht nur einige wenige, sondern alle EU-Staaten auf Rechtsstaat und Demokratie überprüft, sagte er.
Damit will die neue Kommission dem Vorwurf entgegen treten, sie diskriminiere Ungarn oder Polen. Man darf gespannt sein, wie das Urteil über Spanien oder Malta ausfällt, wo es auch Probleme gibt.
Und wie sieht es mit der Unabhängigkeit der Richter in Deutschland aus? Was wird Reynders zur Inhaftierung von Wikileaks-Gründer Assange in UK sagen, was zur Repression der Gelbwesten in Frankreich?
Die Ausweitung der Rechtsstaats-Kontrolle birgt offenbar einige Fußangeln. Aber es gibt noch ein anderes Problem. Was wird mit jenen Staaten, denen Verstöße nachgewiesen werden?
Reynders legte sich nicht fest. Er verwies auf mehrere Optionen, darunter auch die Kürzung von EU-Geldern. Doch die ist – und bleibt – umstritten. Der finnische EU-Vorsitz behauptet zwar, es gebe einen Konsens.
Kein EU-Land habe dem Prinzip der Mittelkürzung widersprochen, heißt es in Helsinki. Doch dann meldete sich die Regierung aus Budapest – Ungarn stellt sich quer. Von der Leyen und Reynders haben ein Problem…
Kleopatra
3. Oktober 2019 @ 08:25
Die Inhaftierung von Julien Assange imUK wird für die kommende Kommission aus dem bekannten Grund kaum mehr ein Problem darstellen.
Die anderen Fragen sind happiger. So kann man wirklich Bedenkliches am Umgang mit katalanischen Politikern in Spanien finden (der ja soweit ging, bei mehreren EU-Mitgliedstaaten einen EU-Haftbefehl wegen “Rebellion” zu probieren, als die aber nur wegen “Veruntreuung öffentlicher Mittel” ausliefern wollten, diesen dankend zurückzuziehen; und nachdem Betroffene ins Europäische Parlament gewählt wurden, will man ihre Mandate nur bestätigen, wenn sie in Spanien einen Eid auf die spanische Verfassung ablegen, was einerseits die Möglichkeit böte, sie trotz abgelehntem Auslieferungsantrag festzunehmen, und andererseits die Frage aufwirft, warum ein MdEP einer einzelstaatlichen Verfassung gegenüber loyal sein sollte, wo doch weder er selbst noch seine Wähler Staatsbürger des Staates zu sein brauchen, den er vertritt). Aber leider werde ich den Eindruck nicht los, dass Staaten, die sich deutschen Vorstellungen in der Währungspolitik unterwerfen, mit fast allem anderem durchkommen.
Die Idee, Mitgliedstaaten für Verstöße gegen rechtsstaatliche Prinzipien durch “Entzug von EU-Mitteln” zu bestrafen, entwürdigt die Idee der Rechtsstaatlichkeit selbst; denn sie läuft darauf hinaus, dass Rechtsstaatlichkeit etwas ist, was schwache und arme Staaten zum Gefallen der Reichen praktizieren, damit letztere ihnen Autobahnen bezahlen (“Nettobeitragszahler” könnten sich ja durch Kürzung ihrer eigenen Einzahlungen schadlos halten). Aber vielleicht geht es vor allem darum, einen unverfänglichen Grund für Polemik gegen osteuropäische Staaten, die unliebsame Konkurrenten geworden sind, zu finden.
Eine EU, in der ein wichtiger Mitgliedstaat bis 1981 die Todesstrafe im Gesetzbuch hatte und bis 1977 praktizierte, sollte nicht erwarten, dass sich soziale und mentalitätsmäßige Veränderungen in allen Ländern sofort und gleichzeitig vollziehen, und vielleicht ist die Todesstrafe ein Beispiel dafür, wie wenige Vorstellungen, die heute als heilige Prinzipien hochgehalten werden, in der 1958 gegründeten EU ursprünglich vorhanden waren.
Holly01
2. Oktober 2019 @ 13:44
Die Staaten der Wertegemeinschaft sind Oligarchien. In den meisten stellt die Oberschicht der 1% sowohl die wirtschaftliche, wie die politische aber eben auch die intellektuelle Spitze und gibt den Ton an.
Selten zum nachteil der reichen.
Die Presse gehört der Oberschicht.
Das Eigentumsrecht und das Steuerrecht sichern das ab und verstärken die Zustände und Entwicklungen.
Was kann bei einer Prüfung schon heraus kommen?
“Wir sind die Guten ….. ”
vlg
Peter Nemschak
2. Oktober 2019 @ 14:43
Die EU hat konstruktionsbedingt keine wirksame Sanktionsmöglichkeit gegen rechtsbrechende Mitgliedsstaaten. Es gibt de facto keine Möglichkeit durch qualifizierten Mehrheitsbeschluss Staaten auszuschließen, abgesehen davon dass es immer wieder Konflikte zwischen den rechtsstaatlichen, wirtschaftlichen und geopolitischen Erfordernissen geben wird. Die EU ist nun einmal ein Bund souveräner Staaten und kein Bundesstaat. Die Mehrheit der europäischen Bürger sieht ihre Sicherheit und ihr Wohlergehen durch ihren jeweiligen Nationalstaat und nicht durch einen europäischen Bundesstaat garantiert. Dass ein mächtiger europäischer Bundessstaat auf Augenhöhe mit China, den USA und Russland Voraussetzung für Sicherheit und Selbstbestimmung Europas ist, wird nicht begriffen und ist ein Indiz für ein gestörtes Verhältnis der Bürger zur Macht. Macht und Herrschaft gelten vielen als unanständig. Warum eigentlich ?
Holly01
2. Oktober 2019 @ 20:58
„Selbstbestimmung Europas ist, wird nicht begriffen und ist ein Indiz für ein gestörtes Verhältnis der Bürger zur Macht. Macht und Herrschaft gelten vielen als unanständig. Warum eigentlich ?“
Ich würde annehmen das Gros will so viel EU wie nötig und so viel (relativen) Einfluss durch den Nationalstaat wie möglich.
Das liegt an 1000 Jahren wechselnder Hegemone, gepaart mit Machtmissbrauch, Bereicherung, Verwüstung, Diebstahl und Grenzen die sich gerne nach dem Zeitgeist richten.
Viele Länder, Völker, Regionen haben eben die Erfahrung gemacht, das je weiter die Macht entfernt ist, desto besser lässt es sich leben.
So viele Massaker, wie in Europa und so viele Massaker wie Europäer in der Welt angerichtet wurden (haben), ist es kaum verwunderlich, das die Quinte lautet:
„Bist du Abhängig, dann bist du im Eimer“
Also will keiner einen entfesselte Großmacht und keiner will die Abhängigkeit spüren und da macht korrumpiert und die Mächtigen kommen und gehen, will auch niemand zu mächtig erscheinen.
Wer Vorne steht muss unterdrücken, weil Begehrlichkeiten entstehen.
Macht korrumpiert. Die Mächtigen und die Ohnmächtigen werden zu Opfern.
Die letzten 70 Jahre waren etwas ziemlich besonderes …
vlg