Es geht nur noch um die Staaten (und deren Eliten)
Die Krise um Katalonien hat ein neues Problem der EU offenbart: Sie versteht sich nur noch als Union der Staaten. Die Völker und Bürger bleiben ebenso auf der Strecke wie die Gemeinschaft.
Um dieses Problem zu verstehen, muss man den EU-Vertrag von Lissabon kennen. Er zielt auf die “immer engere Union der Völker Europas” , in der Entscheidungen “möglichst bürgernah getroffen werden.” (Art. 1)
Der Vertrag spricht also von einer Union der Völker. Die Völker sind die Subjekte, und “Ziel der Union ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern.” (Art. 3.1)
Doch die Völker und die Union – als Gemeinschaft der Europäer – spielen in der aktuellen Debatte um Katalonien und Spanien keine Rolle mehr. Es dreht sich alles nur noch um die Staaten und um deren Eliten.
Kommissionschef Juncker, eigentlich Vertreter der Union, stützt Premier Rajoy, den Premier der spanischen Regierung. Vom spanischen Volk ist nicht die Rede, vom katalanischen schon gar nicht.
Kanzlerin Merkel macht es genauso. Mehr noch: Sie will die EU wie vor “Lissabon” auf zwischenstaatliche Beziehungen zurückführen, und die Gemeinschaft (also die Brüsseler EU-Institutionen) schwächen.
Nur so, heißt es, lasse sich der Zerfall der EU verhindern. “Ich möchte nicht, dass die Europäische Union morgen aus 95 Staaten besteht”, sagt Juncker. “Ich möchte nicht, das Brüssel alles entscheidet”, sagt Merkel.
Klingt richtig, ist aber irreführend. Denn dahinter steht der Versuch, die Bürger und die Völker Europas zu entmündigen und die Staaten und ihre Eliten zu stärken. Es ist das Gegenteil von “Lissabon”.
Es ist ein Rückfall in Etatismus und Legalismus – tarnt sich aber als Kampf gegen den Separatismus. Es ist ein Versuch, den Status Quo zu retten – und den Willen der Bürger und Völker zu brechen.
Das soll nicht heißen, dass ich den Separatismus der Katalanen begrüße. Im Gegenteil, ich habe dafür wenig Sympathien. Genauso wenig Sympathie habe ich aber für eine EU, die ihre eigenen Ziele vergisst…
Here is the real issue. EU deals only with nations states, neglecting people and citizens. Clearly wrong approach, Lisbon was not meant so
— Eric B. (@LostinEU) October 27, 2017
der oekonomiker
31. Oktober 2017 @ 01:34
Die Formulierung „es ist nicht in unserem europäischen Interesse“ ist sicherlich/hoffentlich ironisch gemeint…
Peter Nemschak
31. Oktober 2017 @ 08:47
Nicht ironisch, sondern ehrlich. Es geht um Interessen, um Macht und ihre Durchsetzung.
der oekonomiker
30. Oktober 2017 @ 18:07
So, so, keine Sympathien für den Separatismus der Katalanen? Schade! Das zeugt nämlich von wenig Lust an der Recherche. Es genügen nur wenige Minuten, um den Hintergrund der Separationsbestrebungen ein wenig zu beleuchten. Und, noch besser, anschließend vielleicht doch einiges an Verständnis für die Haltung der Katalanen aufzubringen. Jedenfalls machen es sich alle zu einfach, die die Ursache auf die Folgen der Globalisierung oder der Finanzkrise von 2008 reduzieren. Damit wird – scheinbar gewollt – eine falsche Spur gelegt.
Peter Nemschak
30. Oktober 2017 @ 20:47
Es ist nicht in unserem europäischen Interesse Separatismus in Europa zu fördern, Verständnis hin oder her.
Reinard Schmitz
30. Oktober 2017 @ 07:49
Der Lack ist ab. Dennoch erkennt die Mehrheit den Zustand nicht als Aufgabe, den Karren umzubauen, eh‘ sie ihn immer wieder notdürftig neu lackieren lässt. Wer aber sollte zu der Aufgabe des Umbaus derart auffordern, dass sie angepackt wird? Es ist das gleich Spiel wie in Griechenland: es fehlt das breite Bewusstsein und die „Lehrer“, es zu vermitteln beziehungsweise herzustellen. Ein circulus vitiosus.
hintermbusch
29. Oktober 2017 @ 17:07
Die angeblichen Werte Europas erweisen sich immer mehr als Selbsttäuschung. Darunter kommen die ganz normalen Reflexe eines Imperiums zum Vorschein, das sich mehr oder eher weniger um die Völker bzw.Bürger schert.
Neben der Enttäuschung hat das auch einen angenehmen Effekt: die Hybris lässt sich nicht mehr aufrechterhalten, der ewige moralische Zeigefinger gegenüber anderen Mächten. Wir haben es in Wahrheit schon lange geahnt, dass es sich dabei um eine Anmaßung gehandelt hat oder mindestens um eine billige Schönwetter-Pose. Die neue geistige Freiheit, vor dem Zeigefinger nicht mehr kuschen zu müssen, tut gut, sowohl gegenüber Europa als auch gegenüber dem Übervater in den USA (siehe JFK-Farce)
Trotzdem: bitte kein Blutvergießen um Katalonien. Es ist so überflüssig wie ein Kropf.
Peter Nemschak
29. Oktober 2017 @ 15:24
Wenn sich die Bürger nicht mehr mit ihren Staaten identifizierten, wäre es kein Wunder, wenn sie sich auch nicht mit der EU identifizierten. Es gibt sicher eine Minderheit, die darunter fällt, aber eben eine Minderheit, über deren Größe man streiten kann. Es ist nicht die ökonomische sondern die kulturell-weltanschauliche Spaltung unserer Gesellschaft, wie Politikanalysten empirisch feststellen konnten. Identität schlägt Ökonomie.