Desintegration droht
Heute treffen sich Kanzlerin Merkel und Frankreichs Präsident Hollande in Berlin. Sie zelebrieren die deutsch-französischen Beziehungen – dabei steht es darum schlecht, wie Experten kritisieren:
Berlin und Paris sind kaum noch in der Lage, ihrer früheren Funktion als Bindeglied zwischen unterschiedlichen Mit- gliedergruppen in der stark vergrößerten EU nachzukommen und für eine Mehrheit der EU-Mitglieder akzeptable Kompromisse vorzubereiten.
Zu diesem Schluss kommt eine Reflexionsgruppe am deutsch-französischen Institut Genshagen bei Berlin, an der ich mitwirke. Dem Befund folgt eine Warnung:
Aus der europäischen und deutsch- französischen Krise darf keine Desintegration der Europäischen Union insgesamt werden. Ein derartiger Paradigmenwechsel hätte in der EU politisch und ökonomisch nur Verlierer.
Leider ist dieser Prozess schon weit fortgeschritten; “Grexit” und “Brexit” sind in greifbare Nähe gerückt. Mehr dazu im ersten Positionspapier. Mehr zu meiner Frankreich-Connection hier
Nemschak
31. März 2015 @ 21:21
@der Dicke Machtpolitik ist nichts Verwerfliches sondern gehört seit eh und je zum natürlichen Verhalten von Staaten in unserem an-archischen internationalen System. Was ist ein Europa der Völker? Ein Europa der Frustrierten oder der Erfolgreichen? Die Mehrheit scheint jedenfalls mit den derzeitigen Verhältnissen zurechtzukommen.
DerDicke
1. April 2015 @ 06:16
Ich hätte gerne wieder das Europa der 80er und 90er. Lockeres Miteinander, Grenzkontrollen ja, aber ohne Schikanen, jedes Land für sich selbst verantwortlich, die Wahl in Griechenland nur eine Randnotiz in den Zeitungen.
Machtpolitik an und für sich ist nichts verwerfliches – wie sie im Moment von der EU und den USA betrieben wird schon.
Nemschak
1. April 2015 @ 09:37
Europa fehlt das Selbstbewusstsein, das Voraussetzung für eine Weltmacht ist. Mark Lilla hat Selbstbewusstsein so treffend in seinem jüngsten Gastbeitrag in der NZZ “Eine Weltordnung ohne Europa” beschrieben: so bin ich, so will ich, so ist es.
Peter Nemschak
31. März 2015 @ 16:19
@ebo die Osterweiterung war doch, auch im nachhinein betrachtet, die sinnvollste Option unter den gegebenen Umständen. Was sprach dagegen, außer die Interessen Russlands und jene von ein paar Pazifisten im Westen ?
ebo
31. März 2015 @ 16:39
@Nemschak. Lesen Sie mal die Fachliteratur. Und schauen Sie sich an, was auf Zypern passiert ist, in Ungarn, oder in den baltischen Staaten. Die EU hat sich einen Problemberg eingehandelt, auf den sie nicht vorbereitet war – jetzt droht die Rück-Abwicklung…
Nemschak
31. März 2015 @ 18:14
Problemberg ist richtig, allerdings war es unumgänglich Zentral-und Osteuropa, das nach dem Zweiten Weltkrieg von der damaligen Sowjetunion angeeignet wurde, zurückzuholen, auch wenn der Preis dafür vorübergehend hoch ist. Die EU wird es überleben, weil die wechselseitigen Abhängigkeit bereits so groß sind, dass ein Auseinanderfallen für jedes Mitglied nachteiliger als ein Verbleib ist. Allerdings bedeutet dies, dass nicht notwendigerweise die Eurozone in der jetzigen Form Bestand hat. Selbst in Griechenland ist die Mehrheit der Bevölkerung bereit, sich den Verbleib in der Eurozone etwas kosten zu lassen.
DerDicke
31. März 2015 @ 19:31
Das Geschwurbsel klingt nach Politiker. Ihre Visionen schieben diese Leute nach vorne auf ein “höheres Ziel” zu – aber die Steine vor ihrer Nase über die sie ständig stolpern sehen sie nicht. Und auch nicht den Abgrund, der sich zwischen ihnen und ihrer Vision auftut und der sich “Realität” nennt.
Es handelt sich nach ihrer Aussage nicht um ein Europa der Völker, sondern um ein machtpolitisches Instrument. Die europäischen Völker werden also erkennen, dass der Preis zu hoch ist. Und dann wird der Laden entweder zerbrechen, oder er muss mit so viel Gewalt zusammengehalten werden dass die ehemalige Sowjetunion ein humanitäres Paradies dagegen war.
GS
31. März 2015 @ 13:57
Dummerweise kann die Heterogenität ja noch zunehmen. Wir stellen auch bereits in anderen Gebieten fest, dass die EU zuweilen handlungsunfähig wirkt, m.E. eine zwangsläufige Folge aus dem großmannssüchtigen Anspruch, möglichst jedes Land, das in Europa liegt, auch in der EU zu haben. Aber Erweiterung war ja wichtiger als Identitätsbildung und Verbesserung der Strukturen.
Nun sieht man an der Eurokrise wunderbar, dass selbst die Heterogenität zwischen den alten Mitgliedsstaaten gewaltig ist. Und trotzdem treten weiter munter Staaten diesem Konstrukt bei und verschärfen die Diskrepanzen, zuletzt die baltischen Klein(st)staaten. Es gibt anscheinend in EUropa kein Innehalten und Nachdenken.
Peter nemschak
31. März 2015 @ 14:46
Die EU-Erweiterung war machtpolitisch für die EU alternativenlos, um nicht ein Machtvakuum im Osten entstehen zu lassen, das über kurz oder lang von Russland besetzt worden wäre. Das hat mit Grossmannssuchts nichts zu tun.
ebo
31. März 2015 @ 15:21
Falsch. Die EU-Erweiterung folgte einer deutschen Agenda, sie wurde vom FDP/SPD-Mann Verheugen betrieben. Vor dem “Big Bang” 2004 gab es viele andere Szenarien. Danach zählten die EU-Kriterien nichts mehr, siehe Bulgarien und Rumänien.
DerDicke
31. März 2015 @ 16:46
Herr Nemschak, sie schieben eine ganz schöne Paranoia was Russland und “die Linken” anbelangt. Außerdem vernachlässigen Menschen, die ständig was von “alternativlos” plappern häufig das eigene Denken. Es gibt IMMER Alternativen.
Ohne Russland gäbe es kein vereintes Deutschland. Wären die Russen nicht so gutgläubig gewesen in den 90ern dann hätten sie ihre Millitärstützpunkte in Ostdeutschland behalten und den Unterhalt den Deutschen aufs Auge gedrückt.
Hier haben sie eine Liste der Millitäroperationen unserer “Freunde” inklusive der Annektion von Hawaii (wann wird die Insel endlich den Ureinwohnern zurückgegeben?):
http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Milit%C3%A4roperationen_der_Vereinigten_Staaten
Von Russland gibt es keine solche Liste bei Wikipedia, sie wäre vermutlich zu kurz was einen direkten Vergleich mit den USA sehr schlecht für Amerika aussehen lassen würde.
Peter Nemschak
31. März 2015 @ 09:17
Die Boomjahre zwischen 2003 und 2008 haben eine Ausgangslage verdeckt, die sich bis heute nicht wesentlich geändert hat. Die Krise seit 2008 hat die unterschiedlichen Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme von Großbritannien, Frankreich und Deutschland aber auch Italiens und Spaniens sichtbar werden lassen. Die gemeinsame Währung zwischen Deutschland und Frankreich erschwert die notwendige Anpassung. Mehr Integration zum gegenwärtigen Zeitpunkt wäre Wasser auf die Mühlen der Rechtspopulisten. Die Integration darf von den Menschen nicht als Zwangsjacke empfunden werden. Daher wäre eine Flexibilisierung des Währungssystems, wie von Professor Sinn vorgeschlagen, ein Weg, um Dampf abzulassen. Es ist kein Unglück, eigentlich normal, dass sich die europäische Integration nicht geradlinig in eine Richtung bewegt. Immerhin ist in den letzten Jahren viel erreicht worden. Allein die Erweiterung nach Osten war für die betroffene Region per Saldo ein Vorteil. Was gerne übersehen wird, dass bei einem Staatenbund wie der EU, die nationalen Politiker die primäre Verantwortung tragen und sich nicht auf die EU ausreden sollen, was sie allerdings gerne tun.