Blaupause für TTIP
Das Freihandelsabkommen mit Kanada ist fertig. Doch die EU-Kommission hält den Text unter Verschluss. Denn CETA – so das Kürzel – könnte auch bei den umstrittenen TTIP-Verhandlungen mit den USA Schule machen. Vor allem der Investorenschutz sorgt für Streit, auch in Berlin.
Es war eines der bestgehüteten Geheimnisse dieses Jahres. Niemand sollte den Text des neuen Freihandelsabkommens zwischen der EU und Kanada, kurz CETA, kennen.
Dabei hatte Kommissionspräsident Barroso bereits im vergangenen Herbst eine „politische Einigung“ angekündigt.
Doch wichtige Details waren noch umstritten – und offenbar fürchtete Barroso, CETA könne die laufenden Verhandlungen über ein weiteres Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP) stören.
Nun ist es passiert: Mitte August hat das erste deutsche Fernsehen den 1500-Seiten-Text enthüllt. Und prompt ist die EU-Kommission in die Defensive geraten.
Denn in Deutschland wird CETA als Blaupause für TTIP betrachtet. Und zu TTIP tobt im wichtigsten EU-Mitgliedsland seit Monaten eine erbitterte Schlacht.
Vor allem das Thema Investorenschutz weckt Argwohn. Dass CETA nun ein Investoren-Kapitel enthält, sorgt für massiven Ärger.
In Berlin liegt der Text bei Wirtschaftsminister Gabriel. Der Vorsitzende der SPD hatte mehrfach betont, dass es bei Rechtsstaaten wie Kanada eigentlich unnötig sei, besondere Schiedsgerichte für Investoren (ISDS) einzusetzen.
Sollte Gabriel CETA dennoch zustimmen, wäre dies eine wichtige Vorentscheidung für TTIP. Ein ISDS-Kapitel wäre dann wohl kaum noch zu verhindern.
Genau das fürchten die TTIP-Gegner im Europaparlament. „Jetzt wird klar, was wir schon lange befürchtet haben“, klagt die grüne Europaabgeordnete Ska Keller.
„Private Unternehmen sollen das gleiche Recht wie Staaten bekommen.“
Der grüne Finanzexperte Giegold spricht sogar von der Gefahr einer „Paralleljustiz“. Die Sozialdemokraten im Europaparlament müssten nun Wort halten und wie angekündigt ISDS verhindern.
Doch die Genossen halten sich bedeckt. Der neue Vorsitzende des Handelsausschusses, B. Lange (SPD), fordert Nachverhandlungen, um ISDS herauszunehmen. Eindeutig “Nein” sagt er nicht…
Weitere umstrittene Details zu CETA in “Members only”. Für den Zugang ist ein Password erforderlich – Anfragen bitte per Mail hier.
Peter Nemschak
5. September 2014 @ 08:36
@ebo Ergänzend sei das Beispiel Viktor Orban zu erwähnen, der mit seiner qualifizierten Mehrheit im Parlament nicht nur autokratisch regiert sondern auch willkürlich nachträglich in bestehende privatrechtliche Einkommensrechte eingegriffen hat. Ich würde mir eine Interpretation der geplanten Rechtsschutzklauseln durch unabhängige angesehene Juristen, z.B. des EuGH wünschen, welche die Vor- und Nachteile dem interessierten Laien erklären können. Ein komplexes Vertragswerk zu lesen, ist für den Laien sinnlos und unzumutbar. Dafür gibt es “Leseanwälte”.
Peter Nemschak
4. September 2014 @ 16:22
@ebo Rechtsstaat und Demokratie sind nicht dasselbe. Im Extremfall kann die Demokratie mit Mehrheitsbeschluss den Rechtsstaat und damit die individuellen Freiheitsrechte vernichten: la volonté générale wurde in der Geschichte schon öfter durchgespielt. Mit oder ohne Freihandelsabkommen wird der technische Fortschritt und die Globalisierung fortschreiten, auch wenn manche dies nicht gerne hören wollen. Alle, die das Wort Neoliberalismus als Kampfbegriff verwenden, mögen verstehen, dass wir in einer Mischform leben, und das nicht einmal so schlecht. Von einer totalen Individualisierung aller Lebensbereiche sind wir weit entfernt. Im Gegenteil, in manchen entwickelten Staaten behindert die staatliche Bürokratie die Entfaltung wirtschaftlicher Kräfte.
delighted reader
4. September 2014 @ 13:41
Der ganz normale Wahnsinn. Kafka lässt grüßen.
@Nemschak Unternehmen sind gewöhnlich im Besitz von einzelnen Bürgern, und diese haben natürlich die selben Rechte wie andere Bürger auch. Genauer gesagt werden sie sogar gehätschelt und haben oft privilegierten Zugang zur Politik und können sogar auf Gesetzgebung Einfluß nehmen (warum auch immer das so ist, aber es ist bekanntlich so).
Ein Unternehmen ist im Gegensatz zu den meisten Staaten weder demokratisch organisiert noch haben die Bürger sonst großen Einfluß darauf, weder als Kunden noch als Arbeitnehmer. Warum soll so eine fragwürdige Konstellation nun die gleichen Rechte wie ein Staat erhalten. Am Beispiel Uber sieht man ja, welcher Ubermut sich langsam breit macht, wenn Unternehmen mit ausreichend Kapital im Rücken in Europa in Konflikt mit dem demokratischen Gesetzgeber kommen. Gäbe es schon ein Investitionsschutzabkommen, könnte Uber sein asoziales Abgreifer-Geschäftsmodell nun einfach einklagen, und somit den Willen der Bevölkerung, der sich bei uns bekanntlich durch Wahlen und Entscheidungen gewählter Politiker ausdrückt, einfach torpedieren. Es ist schlimm genug, von SPD und CDU regiert zu werden (die für USA- und Unternehmerinteressen ja sowieso immer ein ganz großes Ohr haben), ich möchte aber schon gar nicht autoritär-“liberal” von US-Banken oder Shareholdern und deren Interessen regiert werden. Ein Staat, der soetwas zulässt, sägt an seinem eigenen Ast, und ohne Staat wird es dann schnell bisschen schwierig mit der Sicherung von Eigentum und guten Geschäften (siehe Somalia). Das schlimmste, was man libertären Kapitalismusfans antun könnte, wäre, ihre Vorstellungen 1:1 umzusetzen, es käme nämlich wohl ziemlich bald was ganz anderes dabei raus als gedacht. Gerade Sie sollten hier also doch mit fordern: “Wehret den Anfängen”. Obwohl man hier von Anfängen gar nicht mehr reden kann, wir sind schon mittendrin in der real existierenden, antidemokratischen Dystopie, wenn solche fundamentalen Entscheidungen jetzt auf der Tagesordnung stehen, vor dem Souverän geheimgehalten.
Peter Nemschak
4. September 2014 @ 14:36
Viele beschwören Demokratie und beteiligen sich außer bei Wahlen nicht am demokratischen Prozess. Die Antikapitalismushysterie der extremen Rechten und der Linken ist doch wahrlich übertrieben, ebenso wie die blinde Staatsgläubigkeit vieler Menschen. Vergessen Sie nicht, es sind die Unternehmen, die produktive Arbeitsplätze schaffen. Dass die Besteuerung internationaler Konzerne im argen liegt, möchte ich nicht bestreiten. Bei dieser Frage könnten sich die Staaten verdienstlich machen.
ebo
4. September 2014 @ 14:52
Sorry, Herr Nemschak, aber die moderne Demokratie beruht auf der Unterscheidung zwischen Bourgeois und Citoyen, Privatsphäre und öffentlichem Raum. Zudem leben wir in Rechtsstaaten. Für die Demokratie sind die Parlamente, für das Recht ordentliche Gerichte zuständig. So wie Sie argumentieren, bestätigten Sie die schlimmsten Befürchtungen der ISDS-Gegner: der Rechtsstaat soll ausgehöhlt, die demokratische Ordnung unterwandert werden.
Peter Nemschak
4. September 2014 @ 12:45
Warum sollen private Unternehmen in Wirtschaftsangelegenheiten nicht das gleiche Recht wie Staaten bekommen? Es gibt ja bereits heute Gesetze und Verfahren, welche Enteignungen und andere Eingriffe in private Rechte im öffentlichen Interesse erlauben. Warum soll darüber hinaus der Rechtsstaat durch demokratische Mehrheiten ausgehebelt werden können? Das scheint offenbar das Anliegen von politischen Kräften (extreme Rechte, Linke, Grüne und gleichgesinnte NGOs) zu sein, welche die marktwirtschaftliche Ordnung radikal in ihrem Sinn verändern wollen. Ob die Mehrheit der Bürger will, dass ihre individuellen Freiheitsrechte eingeschränkt werden? Wenn die ausverhandelten Inhalte offiziell am Tisch liegen, wird es ausreichend kontroversiell argumentierte Experteninterpretationen geben, damit sich die Bürger, unabhängig von politischer Agitation, ihre Meinung bilden können. Chlorhühner und Genmais sind keine schlagenden Argumente. Dass sich neben politischen Agitatoren auch Teile der europäischen Wirtschaft vor amerikanischer Konkurrenz fürchten und gegen den Freihandel lobbyieren, wundert mich nicht. Wettbewerb war bei Kaufleuten noch nie wirklich beliebt.
Ein Europäer
4. September 2014 @ 09:15
Ich will member werden. Ebo schick mir bitte ein pass . Danke !!
ebo
4. September 2014 @ 09:28
Gern, aber ich brauche eine Mail Adresse!
Ein Europäer
4. September 2014 @ 18:57
Vielen Dank Eric 🙂