Krise im Binnenmarkt, Streit über Soziales – und Cancel Culture à la francaise

Die Watchlist EUropa vom 18. April 2024 – Heute mit den Empfehlungen zweier Wirtschaftsexperten aus Italien, zwei nicht wirklich sozialen EU-Ländern und noch einer abgesagten Veranstaltung, diesmal in Lille.

Seit dem Maastricht-Vertrag galt der Binnenmarkt als das Kronjuwel der EU, das für Wachstum und Wohlstand sorgte. Doch damit ist es schon lange vorbei. Der Binnenmarkt steckt in der Krise.

“Der Abstand zu den USA und dem Rest der Welt wächst”, sagte der frühere italienische Premier E. Letta vor dem Sondergipfel der EU in Brüssel, der sich am Donnerstag vor allem mit der Wirtschaft beschäftigt.

Bislang sei der europäische Markt “zu fragmentiert und nicht attraktiv genug”, so Letta. So bekommen Startups, die digitale Technologien entwickeln, deutlich weniger Startkapital als in den USA.

Der Experte aus Rom schlägt daher einen EU-weiten Kapitalmarkt vor. Die Zersplitterung müsse überwunden werden. Das ist allerdings ein alter Hut. Einer Integration stehen bisher vor allem Steuerparadiese wie Luxemburg oder Irland entgegen.

Verfehlte Wirtschaftspolitik

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Wesentlich weiter als Letta geht sein Landsmann M. Draghi, der ehemalige Chef der Europäischen Zentralbank. Er hält der EU eine verfehlte Wirtschaftspolitik vor. Der Binnenmarkt habe zu Lohndruck und “kompetitiver Abwertung” geführt.

Deutschland und die anderen EU-Staaten hätten versucht, sich gegenseitig zu unterbieten und auszustechen, statt sich an der Konkurrenz in den USA und China zu orientieren. Deshalb sei die EU nun weit zurückgefallen.

Draghi empfiehlt eine neue Handels- und Industriepolitik, die sich vor allem am amerikanischen “Inflation Reduction Act” orientiert. Die USA spielten nicht nach den Regeln – deshalb bleibe Europa nichts übrig, als nachzuziehen.

Auch das ist nichts Neues – wir haben es in diesem Blog wiederholt kritisiert. Doch EU-Chefin von der Leyen ist eine unverbesserliche Transatlantikerin – sie hat sich schlicht geweigert, den USA etwas entgegen zu setzen…

Siehe auch “Ein Jahr Inflation Reduction Act: Die EU fällt zurück” und Die Malaise im Binnenmarkt. Der Krise ist auch ein Kapitel in meinem neuen E-Book gewidmet, mehr hier

News & Updates

  • Streit über das Soziale Europa. Es sollte ein Höhepunkt des belgischen EU-Vorsitzes werden: Bei einem Treffen in La Hulpe haben sich die EU-Institutionen zu einem sozialen Europa bekannt. Doch Schweden und Österreich verweigerten ihre Unterschrift – genau wie der Arbeitgeberverband „Business Europe“. Die Gewerkschaften hoffen dennoch auf soziale Fortschritte. – Mein Artikel in der “taz”
  • EU-Gipfel berät über “russischen Einfluss”. Die Staats- und Regierungschefs haben sich bei ihrem Gipfeltreffen in Brüssel auch mit möglicher Einflussnahme aus Russland auf die Europawahl befasst. “Wir dürfen nicht naiv sein, was vor unseren Augen passiert”, warnte Belgiens Regierungschef Alexander de Croo. Zuvor hatte er Ermittlungen der belgischen Justiz angekündigt. – Mehr im Blog 
  • Scholz fordert mehr Hilfe für Ukraine. Die EU-Partner sollen nach dem Willen von Bundeskanzler Olaf Scholz prüfen, ob sie der Ukraine mehr Militärhilfe zur Verfügung stellen können. “Das gilt insbesondere für all die Möglichkeiten, die zur Luftverteidigung erforderlich sind.” – Zuvor hatte die Nato eine Krisensitzung einberufen. Doch die Aussichten für die Ukraine sind düster. – Mehr hier

Das Letzte

Cancel Culture nun auch in Frankreich. Die autoritäre Unsitte, nicht genehme oder politisch nicht korrekte Veranstaltungen zu canceln, breitet sich in der EU immer mehr aus. Nach dem Abbruch eines Palästina-Kongresses in Berlin und der Sperrung einer rechtspopulistischen Tagung in Brüssel kommt nun auch noch ein Verbot aus Paris bzw. Lille. Dort hat die Universität eine Veranstaltung mit dem promienten Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon abgesagt, weil eine kontroverse Palästinenserin auftreten soll. Es geht um R. Hassan, die auch für die Linke bei der Europawahl kandidiert. Es scheint fast, dass EU-Kandidaten besonders “gern” gecancelt werden – Y. Varoufakis ist noch so ein Fall. Mehr dazu hier. Meine Glosse zur Cancel Culture in Brüssel hier (taz)

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