Wo Verheugen Recht hat
Das Brexit-Chaos ist längst zum Talkshow-Thema geworden. Die meisten Gäste plappern einfach nur die Regierungsposition nach – die Briten seien selbst schuld, sie sagten immer nur “No”. Bei “Anne Will” wagte der frühere EU-Kommissar Günther Verheugen endlich eine andere Meinung.
Die Briten haben einen Anspruch darauf, dass die EU mal was Neues vorlegt”, sagte Verheugen. Denn der Brexit-Deal sei kein Diktat der EU gegenüber Großbritannien. Doch Brüssel habe von Anfang an klargemacht: “Das Spiel wird nach unseren Regeln gespielt.” Dabei seien die Probleme lösbar.
Dies gelte auch für die Grenze zwischen Irland und Nordirland. “Wenn Sie da was kontrollieren wollen, können sie das an den Häfen und Flughäfen machen.” Man brauche keine Personenkontrollen, und das Handelsvolumen sei lachhaft, so Verheugen. Die EU bausche das Problem unnötig auf.
Da hat der Mann natürlich Recht. Die offene irische Grenze wurde von den Europäern symbolisch aufgeladen – als Garant für das Karfreitagsabkommen und den Frieden – und verhandlungstechnisch ausgenutzt – als Vorwand für den Backstop, der sich nun als größtes Hindernis beim Brexit erweist.
Allerdings ist Verheugen auch ein wenig einseitig in seiner Kritik. Schließlich war er es ja, der den “Big Bang” – also die EU-Erweiterung – organisiert hat, die die Union auf einen Schlag um zehn Mitglieder vergrößerte. Vor allem der Zustrom der Osteuropäer führte in UK später zu den Problemen, die im Brexit mündeten.
Verheugen ist also nicht ganz unschuldig an dem Debakel. Doch darauf kommt man erst, wenn man auch einmal über die Ursachen der britisch-europäischen Krise spricht. Die übereilte und schlecht vorbereitete Ost-Erweiterung zählt ebenso dazu wie die Freizügigkeit und die Austeritätspolitik.
Auch der Alleingang von Kanzlerin Angela Merkel in der Flüchtlingskrise 2015 und beim Türkei-Deal 2016 wäre in diesem Zusammenhang zu erwähnen. Doch dazu hat Verheugen nichts gesagt. Und Anne Will hat nicht danach gefragt. Schade eigentlich, denn ohne Ursachen-Analyse werden wir das Problem nie lösen…
Siehe auch “Diese Alternativen hat Brüssel verbaut”
Kleopatra
9. April 2019 @ 06:31
Die Osterweiterung war unter anderem deshalb ein Problem, weil Großbritannien keine Ausnahmeregelung für die Arbeitnehmerfreizügigkeit genutzt hat. Deutschland und Österreich haben hier eine siebenjährige Übergangsfrist vor der vollen Freizügigkeit osteuropäischer Arbeitskräfte genutzt, und in beiden Ländern ist das Verhältnis zu den Osteuropäern entspannter. Tony Blair hingegen hat mit großsprecherischer Geste auf diese Möglichkeit verzichtet und dann auch noch seinen Mitbürgern versichert, es würden eh nur ein paar -zigtausend kommen (obwohl er das gar nicht mehr zusichern konnte). Sein Nachfolger Brown hat dann noch von “British jobs for British workers” gefaselt, als es durch die Dummheit seines Vorgängers längst zu spät war.
ebo
9. April 2019 @ 10:01
Richtig. Aber es handelte sich eben um eine Ausnahmegenehmigung – Verheugen wollte die volle Freizügigkeit, wie es der EU-Denke entspricht.
Peter Nemschak
8. April 2019 @ 12:52
Die EU-Erweiterung war geopolitisch geboten, um die früher von der Sowjetunion beherrschten osteuropäischen Länder aus dem Einflussbereich Russland herauszuholen und in den Westen zu integrieren. Der Chef des Instituts für Weltwirtschaft in Kiel, Felbermayer, plädiert dafür, die BREXIT-Verhandlungen neu zu starten und eine für beide Teilen sinnvolle Einbindung der britischen Peripherie nach Europa zu ermöglichen. Es war ein Fehler, zuerst die Austrittsbedingungen und erst danach das zukünftige Verhältnis des UK zur EU zu verhandeln. Hoffentlich gelingt ein Neustart zu später Stunde.
ebo
8. April 2019 @ 14:25
Sehe ich ganz ähnlich! Siehe “Diese Alternativen hat Brüssel verbaut”