Wo Tsipras Recht hat

Radikales Gehabe, rationale Argumente

Nach Paris will der griechische Linkenführer Tsipras heute auch Berlin besuchen. Merkel verweigert ihm zwar ein Treffen, doch er hat eine klare Botschaft an die Kanzlerin: Das Spardiktat funktioniert nicht, es muss neu verhandelt werden, wird Tsipras fordern. Das klingt zwar ziemlich anmaßend, doch leider hat der Mann Recht: Mit Griechenland geht es seit dem Beginn der „Anpassungsprogramme“ bergab. Wer das Land im Euro halten will, muss den Kurs ändern.

Gestern war Tsipras, der aus den „Schicksals“-Wahlen am 17. Juni als Sieger hervorgehen könnte, schon in Paris. Dort traf er sich mit Kommunisten und Linksparteichef Mélenchon. Der sozialistische Präsident Hollande – in Wahrheit ein Sozialdemokrat – wollte ihn nicht sehen, was ihn zu der trotzigen Bemerkung bewegte: „Es ist eines unserer Ziele, die europäischen Politiker zu zwingen, den Realitäten ins Auge zu sehen“, sagte er laut „Le Monde“.

In Griechenland werde nicht nur ein Austeritäts-Programm durchgezogen, so Tsipras, es sei noch viel schlimmer: „Es handelt sich um ein europäisches Experiment mit einer neoliberalen Schocktherapie, die mein Land in eine beispielose humanitäre Krise geführt hat.“ Sollte dieses Experiment gelingen, werde es bald auch in andere Länder exportiert, gibt sich der Syriza-Chef überzeugt.

In deutschen Ohren, die nur Schlechtes über Tsipras hören und lesen, dürfte dies wenig überzeugend klingen. Daher hier ein Zitat des des Linksradikalismus unverdächtigen FT-Kolumnisten M. Wolf zur wirtschaftlichen Entwicklung in Griechenland seit dem Beginn der Spardiktate:

Unemployment soared from 7 per cent of the labour force in May 2008 to 22 per cent in January 2012, while the unemployment rate of people aged under 25 jumped from 21 per cent to 51 per cent. Worse, despite fiscal austerity and debt restructuring, the International Monetary Fund estimates that gross public debt will be 160 per cent of gross domestic product in 2013, 50 percentage points higher than in 2008. Moreover, the IMF forecasts that the current account deficit – the balance of trade on goods and services – will be more than 7 per cent of GDP this year.

Und wie sieht es mit dem jüngsten „Anpassungsprogramm“ aus, das vor drei Monaten beschlossen wurde? Dazu ein Zitat aus FT alphaville:

But what do we really know about the state of the bailout programme as it is now? In other words, what do we know about how three months of political instability might have sent it off course. The answer is getting clearer every day: the drugs are running out, the lights are struggling to stay on, and the business pages of Kathimerini are full of references to precipitous drops in revenue from privatisation and tax collection.

One telling sign in particular is that the IMF is watching the budget numbers and the arrears situation on a daily basis in the run-up to the elections. In that case, surely the bailout will have to be renegotiated anyway, whenever the Troika next sits down with a Greek government that can talk to it. That’s economic reality, whatever the Europeans are currently insisting.

Kurz: Die Experten der britischen FT kommen zu dem Schluß, dass der Sparkurs Griechenland noch tiefer in die Krise getrieben hat und dass das jüngste Memorandum allein schon aus ökonomischen Gründen neu verhandelt werden muss.

Neuerdings räumt sogar das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft ein, dass der Sparkurs kontraproduktiv war und gelockert werden muss, wie die FTD meldet. Man muss also nicht „linksradikal“ oder „populistisch“ sein, um Tsipras zumindest in der Analyse Recht zu geben.

Umgekehrt wird ein Schuh daraus: man muss sehr verbohrt sein oder Hintergedanken haben, wenn man eine Neuverhandlung oder meinetwegen Nachjustierung des Memorandums ablehnt, so wie dies Merkel immer noch tut. Geht es der Kanzlerin vielleicht am Ende gar nicht darum, Griechenland im Euro zu halten – sondern darum, einen Sündenbock zu finden, wenn es schief geht?

Tsipras will sein Land übrigens im Euro halten…


 

P.S. Wer sich näher mit dem Programm der griechischen Linken, ihren Forderungen und ihren internen Widersprüchen beschäftigen will, dem empfehle ich dieses interessante Interview.


 


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