Wo „Pulse of Europe“ irrt
Die europapolitische Debatte krankt an vielen Verkürzungen und Verdrehungen. Am Beispiel der Kundgebungen von „Pulse of Europe“ (PoE) lassen sich diese (leider) gut darlegen. Ein Gastbeitrag.
Von Andrej Hunko*
Für Europa! Für den Frieden! Für Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit! Wer kann gegen diese Beweggründe von PoE sein? Insbesondere angesichts des Aufstiegs der Rechten in vielen Ländern Europas, wachsendem Hass und Rassismus ist nachvollziehbar und wichtig, dass Menschen für diese Ziele eintreten und sich dem rechten Zeitgeist entgegenstellen.
Ein einfaches „für Europa“ ist jedoch nicht zielführend, wenn es nicht auch Rolle und Struktur der real existierenden Europäischen Union kritisch hinterfragt. Es zeigt sich immer deutlicher, dass die Idee der europäischen Integration heute gegen diese EU verteidigt werden muss.
Denn die vertraglichen Grundlagen und die strukturellen Probleme sind die wichtigste Ursache der Polykrise der EU, die inzwischen auch Teile der EU-Eliten eingestehen.
Es sind vor allem zwei Merkmale der EU, die zur Entstehung der Krise beigetragen haben: ihre wirtschafts- und sozialpolitische Festlegung sowie die eklatanten Demokratiedefizite ihrer Institutionen.
Überholtes Wettbewerbsdogma
Denn erstens ist die EU zu weiten Teilen vertraglich und institutionell kristallisierter Neoliberalismus. Ihre gegenwärtig durchschlagende Programmierung und Formatierung wurde in der Ära der neoliberalen Hegemonie der 1990er und 2000er Jahre etabliert – etwa in den Maastrichter Verträgen, die die Grundlage des gegenwärtigen Euro-Systems bilden, oder dem Lissabon-Vertrag, der die ursprünglich betriebswirtschaftliche Kategorie des Wettbewerbsdogmas auf Gesellschaften übertrug und zementierte.
Innerhalb dieser Konstruktionen zu umfassender sozialer Entwicklung zu gelangen, ist nur schwer möglich. Die Erwerbslosigkeit vor allem unter Jugendlichen ist heute in Südeuropa enorm, die Armutsquoten steigen und soziale Sicherungssysteme werden abgebaut. Die wachsende soziale Ungleichheit sowohl innerhalb der EU-Staaten als auch zwischen ihnen ist der Hauptgrund der wachsenden EU-Skepsis.
Große Demokratiedefizite
Zweitens wird die Skepsis gegenüber der EU durch deren Demokratiedefizite genährt. Diese sind gemeinhin bekannt: Dem Europäischen Parlament fehlen Kompetenzen wie das Initiativrecht, die nicht ausreichend demokratisch legitimierte EU-Kommission hat zu viel Gewicht und im Rat entscheiden Regierungen statt Parlamente intransparent sowie ohne demokratische Kontrolle.
Direktdemokratische Elemente muss man mit der Lupe suchen. Gepaart mit dem ebenso bekannten Problem des Lobbyismus haben diese Defizite verständlicherweise zu einer Entfremdung der EU von den Menschen geführt. Allein: Es ändert sich nichts. Auch das Weißbuch der EU-Kommission zur Zukunft der Union sieht keine Demokratisierung vor.
Beschleunigte Militarisierung
In der aktuellen Krise mit den Alarmglocken Trump und Brexit scheinen sich wesentliche Teile der EU-Eliten nun auf eine beschleunigte Militarisierung als „Ablassventil“ einzuschießen. EU-Armee, Verteidigungsunion und Globalstrategie sind die Stichworte.
Der Versuch, durch Aggression nach außen von Problemen im Innern abzulenken, ist alles andere als neu. Doch scheint mir sicher, dass er eher ein Sargnagel sein wird, als eine Lösung.
Die Fliehkräfte, die durch die Konstruktionsfehler der EU und die marktradikale Politik der Regierungen entstanden sind, sind bereits enorm. Doch noch ließe sich umsteuern, wenn der politische Wille dafür vorhanden wäre.
Die EU retten, um sie zu verändern?
In ihrem „pro-europäischen“ Aufruf schreiben die Organisatorinnen und Organisatoren von „Pulse of Europe“, dass man die EU retten müsse, um sie zu verändern. Andersrum wird ein Schuh daraus.
Nur wenn die EU grundlegend verändert wird, wird sie zu retten sein. „Für Europa“ zu sein muss heute beinhalten, dass die EU nicht so weitermachen kann, wie bisher. Das aber kommt bei den Pro-EU-Kundgebungen viel zu kurz.
*Andrej Hunko ist europapolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE im Bundestag. Ende März richtete er gemeinsam mit den Bundestags-Abgeordneten Diether Dehm und Alexander Ulrich sowie dem EP-Abgeordneten Fabio De Masi einen offenen Brief an „Pulse of Europe“. Eine Antwort steht bislang aus.
hintermbusch
13. April 2017 @ 15:07
Die Linke hat die große Begabung, viel Richtiges zu sagen, und dann trotzdem die falschen Schlussfolgerungen zu ziehen.
Beispiel 1: Militarisierung
Natürlich ist es richtig, Militäreinsätze in fernen Weltgegenden mit äußerstem Misstrauen zu begegnen. Dort steckt meistens nicht das drin, was draufsteht. Andererseits ist Europa ein militärischer Zwerg und naiv. Ein wenig mehr Problembewusststein und militärische Defensivfähigkeiten für die Sicherung des europäischen Kontinents selbst fände ich durchaus wünschenswert. Gerade in Deutschland ist der Unsinn Konsens, dass die Bundeswehr die Demokratie nach Afghanistan bringen, aber die eigenen Grenzen nicht sichern kann. Vor dieser irren Mischung sollten wir Angst haben.
Beispiel 2: Der Euro
Die Linke ist sich nicht einig, ob der Euro eine Fehlkonstruktion ist, die abgewickelt werden muss, oder ob er (durch bürokratische Umverteilung) noch gerettet werden kann. Diesem Konflikt in den eigenen Reihen weicht sie aus. Die grundlegende Kritik am Euro und seiner „Rettung“ durch Wagenknecht und Lafontaine, die in Wahrheit eine Rettung der Banken und der Banker ist, ist doch auch in „die Linke“ längst nicht mehr mehrheitsfähig. Die weniger Kompetenten in der Partei freuen sich doch längst darauf, mit dem Vehikel „Eurorettung“ den ganzen Kontinent in eine Zentralverwaltungswirtschaft verwandeln zu können. Wir müssen uns fürchten vor dem Tag, wo Andrea Nahles, Kathrin Göring-Eckard, Katja Kipping und Bodo Ramelow gemeinsam 5-Jahres-Pläne erstellen und jedem von uns gerecht und christlich seine Schale Reis zuteilen.
derFriedri.chh
13. April 2017 @ 14:07
Ich finde es erstaunlich, dass Herr Hunko nach seinem offenen Brief nun hier nochmals zeigt, dass er #PulseofEurope nicht verstanden hat. Insbesondere ist es deswegen schade, da er aus Aachen kommt und wir seit dem 05.03. auch Kundgebungen in Aachen abhalten. Als Teil der Organisatoren kann ich definitiv sagen: gesprochen hat er mit uns nicht.
Wer dann aber, behauptet, wir würden uns irren und wären nicht kritisch, der betreibt Unterstellungen ohne mit den Menschen gesprochen zu haben. Dabei hat sein Aachener Parteifreund sogar selber am Mikrofon gestanden, wurde gehört und bekam ordentlich Applaus. Anmerkung: Die Rede hätte, mit weniger Groll und Wut in der Stimme, noch mehr Applaus bekommen.
Vielleicht liegt auch gerade da das Problem der Linken? Ton und Auftreten sind laut, negativ (dagegen) und auch engstirnig. Das die europäische Debatte auch (nicht alleine, so vermessen sind wir nicht) danke #pulseofEurope stärker geführt wird, beweisen die Berichte, die Hachtags, die Tweets, die Likes, die Comments usw.
#PulseofEurope begann vor einem halben Jahr mit einem Zeichen gegen Populismus und Spaltpilze. Bewusst allgemein gehalten um überhaupt zu motivieren. Der Zulauf war und ist enorm. Die Redner als auch Organisatoren scheuen in ihren Beiträgen auch nicht vor Kritik zurück – wir verpacken sie aber anders.
Eine allgemeine, öffentliche inhaltliche Positionierung von #pulseofEurope, wie sie vor allem von der Linken gefordert wird, ist aus zwei Gründen nicht vorhanden:
1) Es fehlt dafür Zeit und Organisation. Wer wöchentlich immer größere Kundgebungen veranstaltet und dies ohne vorherige Erfahrung macht (auch ein Punkt den viele Schätzen), der kümmert sich schlicht um den nächsten Sonntag. Es ist kaum zeit für eine inhaltliche Diskussion.
2) Die Organisatoren und Städte sind von Links(!) bis konservativ aufgestellt. Von einer Bürgerbewegung mehr zu erwarten als von Berufspolitikern im Bundestag ist eine doch gewagte Forderung. Wie gesagt: #PulseofEurope gibt es seit November.
Jedem bei PulseofEurope ist bewusst, dass nun Inhalte notwendig sind. Diese Diskussion wird übrigens intensiv geführt.
Letztlich stört mich persönlich aber die Kritik, gepaart mit Unterstellungen, an einer Bewegung die friedlich und positiv auftritt. Diese Attacken kommen vor allem vom linken und rechten Rand und setzen die Bewegung in einen Kontext, der nicht stimmt. Vor allem der Vorwurf, wir würden ja rechts näher stehen ist eine ziemliche Peinlichkeit.
ebo
13. April 2017 @ 15:12
@derFriedrich Danke für den Kommentar. Es ist gut, dass es in Aachen (noch) eine proeuropäische Bewegung gibt. Denn nur ein paar Kilometer weiter, in Maastricht, fährt G. Wilders mit seiner Islamhetze massive Erfolge ein. Weiter westlich, in Lille, ist Marine Le Pen auf dem Vormarsch. Es wäre allerdings ein Fehler, so zu tun, als sei alles (wieder) gut, wenn Le Pen in der Präsidentschaftswahl geschlagen wird. Leider erweckt „Pulse of Europe“ den Eindruck, als gehe es nur darum, das Schlimmste zu verhindern – und den Status Quo in der EU zu verteidigen. In Brüssel glauben daher viele, dass die Bewegung nach den Wahlen in Frankreich wieder einschlafen wird (wenn Le Pen es nicht schafft, was wir alle hoffen)…
derFriedri.ch
13. April 2017 @ 21:33
Hallo ebo,
das Wilders in Maastricht und generell in der Provinz Limburg so hohen Beliebtheitswert genießt, liegt auch daran, dass man sich in den Niederlanden auf die Regionen Amsterdam und DenHaag konzentriert und die Peripherie im Stich lässt. Vor allem in Limburg hat man den Strukturwandel verpasst.
kaush
13. April 2017 @ 18:04
Pulse of Europe steht offensichtlich der neoliberalen / kleptokratischen Elite nahe – und wird entsprechend von ihr gefeiert und gefördert.
„Nur wenn die EU grundlegend verändert wird, wird sie zu retten sein. „Für Europa“ zu sein muss heute beinhalten, dass die EU nicht so weitermachen kann, wie bisher. Das aber kommt bei den Pro-EU-Kundgebungen viel zu kurz.“
Das kann ich nur ganz dick unterstreichen. Diese EU, dieses Versailles, dass man sich in Brüssel gebaut hat, wird keinen Bestand haben.
Lesenswertes zum Pulse… :
„Pulse of Europe – Worum geht es? Das wüsste man gerne. Aber schon die „zehn Grundthesen“ dieser wohlmeinend klingenden Vereinigung lassen einen ratlos zurück“
http://www.nachdenkseiten.de/?p=37404
„Europa ist zu wichtig, um es den Phrasendreschern zu überlassen – schreiben Sie uns Ihre konstruktive Kritik“
http://www.nachdenkseiten.de/?p=37702
mister-ede
13. April 2017 @ 22:09
„Eine allgemeine, öffentliche inhaltliche Positionierung von #pulseofEurope, […] ist aus zwei Gründen nicht vorhanden“
Auf Twitter sagten Sie noch, dass PoE Inhalte habe. Finde es daher gut, dass Sie nun selbst zu der Erkenntnis kommen, dass es sich vielmehr um ein inhaltsleeres Fahnenschwenken handelt.
Die Kritik von Hr. Hunko kann ich gut nachvollziehen.
Werner G
13. April 2017 @ 12:05
@Nemschak Der individualisierte Welt, um Ihre Worte aufzunehmen, ist es völlig egal ob Linke oder Rechte Ideologien, oder Mischmasch a la GROKO die EUROPÄER (Hiermit meine ich die in Europa beheimateten Menschen, nicht die betriebsblinden Eurobefürworter) ausbeuten.
Die Europäer werden es auf Dauer nicht hinnehmen, daß sich die Lebensverhältnisse für eine große Masse ständig verschlechtern.
und kommen Sie mir ja nicht mit: uns geht es so gut wie nie zuvor…
oder wir leben seit 70 Jahren in Frieden, da sich die Europäer nicht mehr bekriegen. Kriege sind in der Regel federführend von den Deutschen initiiert worden….
Peter Nemschak
13. April 2017 @ 13:40
Kriege …federführend von den Deutschen initiiert? Wo haben Sie diesen Unsinn her?
Benniabi
13. April 2017 @ 11:59
Warum macht denn dann keine dieser dämlichen Parteien, dezidiert pro- und reform-europäischen Wahlkampf? Auch die Linke leider nicht. Ich sehe nur ein relativ plattes „zeig Stärke“
Peter Nemschak
13. April 2017 @ 09:41
Das Wettbewerbsdogma hat sich nicht nur in der EU sondern global gegenüber alternativen Ansätzen durchgesetzt. Wir leben in einer stark individualisierten Welt, welche sich durch die sozialen Medien und die Digitalisierung weiter verfestigen wird. Es ist keineswegs eine ausgemachte Sache, dass die EU für ihren Fortbestand eine vertiefte Integration aller Mitglieder auf allen Politikfeldern benötigt. Die Linke sollte sich fragen, warum sie derzeit weniger attraktiv für die Menschen als der Rechtspopulismus ist.Die Forderung der Linken nach einem fundamentalen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Paradigmenwechsel ist realitätsfern und utopisch.