Wie man EU-Gipfel verfolgt (und versteht)
Der EU-Gipfel – im Fachjargon: Europäischer Rat – hat sich spätestens seit der Eurokrise zum wichtigsten Organ der Union entwickelt. Doch es ist nicht immer leicht, die Treffen der EU-Granden zu verfolgen und zu verstehen. Mit einem “Merkel hat sich wieder durchgesetzt” ist es nicht getan. Hier die wichtigsten Tipps aus der Praxis.
Vor dem Gipfel
Wer sich auf einen EU-Gipfel vorbereitet, muss sich nicht allein auf die Medien verlassen (die nicht immer vorab berichten). Man kann sich auch aus offiziellen EU-Quellen, internen Briefings und spezialisierten Websites informieren.
Brüsseler Insider “besorgen” sich zudem gern Entwürfe der Gipfel-Beschlüsse, die so genannten Schlussfolgerungen. Aber Vorsicht: Sie sind nicht frei zugänglich und werden oft noch einmal geändert. Don’t believe the hype!
1. Offizielle Quellen
Website des Europäischen Rats – mit den grundlegenen Infos zu EU-Gipfeln
Tagungsprogramm mit Hintergrund-Infos – am Beispiel des EU-Gipfels vom 19. und 20.10.2017
Website des ständigen Ratspräsidenten – mit Einladungen und anderen Dokumenten zum Gipfel
Interessant ist vor allem der Einladungsbrief an die Staats- und Regierungschefs, in dem der Ratspräsident die wichtigsten Themen des Gipfels vorgibt und den Ablauf skizziert. D. Tusk wählt dabei oft drastische Formulierungen – lesenswert!
2. Briefings
Für akkreditierte Journalisten veranstalten der Rat, aber auch viele ständige EU-Vertretungen vor dem Gipfel ein Background-Briefing. Dort werden die wichtigsten Themen und Schwerpunkte aus nationaler Sicht präsentiert. Besonderer Beliebtheit erfreuen sich die Briefings Deutschlands und Frankreichs, Termine auf Nachfrage bei den Pressesprechern.
Übrigens wird das deutsche Briefing in Berlin abgehalten und per (wackliger) Videoschalte nach Brüssel übertragen. Offenbar mißtraut Kanzlerin Merkel ihrem EU-Botschafter (der das früher ganz selbstverständlich machte).
3. Websites
EUObserver. Einer der besten Insider-Dienste zur EU, leider steht neuerdings vieles hinter einer Paywall. Die Terminvorschauen und Gipfelberichte lohnen sich trotzdem. Einer davon steht hier.
EurActiv. Das Online-Netzwerk mit Büros in Brüssel, Berlin, Paris usw. berichtet ausführlich über die laufenden EU-Geschäfte, aber auch über die Lieblingsthemen seiner Sponsoren. Gipfelvorberichte, wie z.B. dieser hier.
Politico. Der Brüsseler Ableger des Washingtoner Online-Magazins berichtet über alle möglichen EU-Themen, doch nicht immer (vorab) über die Gipfeltreffen. Manches ist sensationell aufgemacht, z.B. hier. Dennoch einen Klick wert.
Während des Gipfels
Die meisten Presseartikel entstehen nicht während des Gipfels, sondern bei der Ankunft der Staats- und Regierungschefs, dem so genannten Stake-in. Das kann man auch von zuhause oder aus dem Büro live verflogen, viele Journalisten machen es genauso. Auch die Pressekonferenzen während des Gipfels und danach, zum “krönenden” Abschluss, werden per Video übertragen.
Hier der Link: Europe by Satellite (Schedule) Die Gipfel kommen meist bei EBS live.
Eine wichtige Quelle ist auch Twitter. Unter dem Hastag #euco (für European Council) twittern Minister, Kommissare und Journalisten über die neuesten Entwicklungen vom Gipfel. Die größte Beachtung findet Tusk-Sprechen P. Aamann, denn er verkündet per Twitter, wenn etwas verabschiedet wurde oder der Gipfel zu Ende geht. Please follow @PrebenEUspox Demgegenüber bringt der deutsche @RegSprecher S. Seibert meist nur hübsche Bilder von Merkel und ihren Fans
Empfehlenswert ist auch der britische “Guardian”, denn er bringt fast immer einen Live-Blog zum Gipfel. Das Haupt-Augenmerk liegt allerdings auf britischen Themen, z.Z. vor allem auf dem Brexit.
Und dann wären da noch die Online-Dienste aus Brüssel, eine Auswahl steht oben.
Nach dem Gipfel
Nach dem Gipfel gilt es, zuerst die Beschlüsse (“Schlussfolgerungen”) zu lesen. Sie spiegeln die Machtverhältnisse im Europäischen Rat – nicht nur über die Themen und Beschlüsse, sondern auch durch die Formulierungen. Wer den Gipfel genau verfolgt hat, kann alte und neue Formulierungen abgleichen und daraus seine Schlüsse ziehen – oft ist diese Text-Exegese interessanter als das, was offiziell als Ergebnis verkündet wird. Die gesammelten “Council Conclusions” stehen hier.
Außerdem kann man sich in Netzwerken wie dem European Mouvement oder Thinktanks wie dem EPC in Brüssel über die Ergebnisse informieren – ohne die in den deutschen Medien übliche rosarote Merkel-Brille.
Für Cracks interessant ist auch die Plenardebatte des Europaparlaments, das sich wenige Tage nach jedem Gipfel mit den Ergebnissen beschäftigt. Das Parlament hat zudem eine eigene Unit, die die Gipfeltreffen analysiert, die Website ist hier
Zum besseren Verständnis
Wenn die o.g. Quellen nicht reichen und die etablierten Medien nicht genug erklären, können einige Leitfragen helfen:
- Welche Themen wurden behandelt, welche nicht (z.B. die Katalonien-Krise in Spanien) – und warum nicht?
- Was wurde beschlossen, was wurde vertagt – und auf wessen Wunsch (z.B. Merkel und die Euro-Reform)?
- Wer stand auf der Bremse, wer hat sich ins Abseits manövriert?
- Welche (nationale) Position hat sich durchgesetzt? (Vorsicht, alle EU-Chefs präsentieren sich als Gewinner)
- Helfen die Beschlüsse tatsächlich, aktuelle Probleme zu lösen – oder wird die Lösung aufgeschoben?
Dies sind auch die Leitfragen, denen ich in meinem Blog “Lost in EUrope” nachgehe. Alle Gipfelberichte finden sich hier. Warum Kanzlerin Merkel (angeblich) jeden EU-Gipfel gewinnt (selbst wenn sie einknickt oder verliert), steht hier
Peter Nemschak
19. Oktober 2017 @ 12:51
Ein wirklich erstklassiger Leitfaden. Allerdings zeigt er die Grenzen der direkten Demokratie. Welcher Bürger hat neben seinen täglichen Verpflichtungen ausreichend Zeit und Lust, sich mit den zahlreichen Sachthemen zu befassen, um informiert seine Stimme abgeben zu können. Nachdem in Zeiten der Krise der Einfluss der intergouvernmentalen Governance auf den Entscheidungsprozess innerhalb der EU gestiegen ist, kommt es letztlich auf das Vertrauen des Bürgers in seine nationale Regierung an, das europäische Gesamtinteresse mit dem nationalen in Einklang zu bringen. Die Versuchung, sich angesichts des Gefühls der globalen Heimatlosigkeit in den nationalen Bau unter die Decke zurückzuziehen, ist verständlich, löst aber nichts. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als uns der europäischen und globalen Herausforderung zu stellen und versuchen sie mitzugestalten. Tun wir es nicht, haben wir sicher verloren, engagieren wir uns, haben wir zumindest eine gewisse Chance nicht unterzugehen.