Widerspruch unerwünscht

Europa könnte so toll sein, wenn sich alle an die Regeln hielten – und von Deutschland führen ließen. So tönt es immer lauter aus Berlin. Dabei ignorieren die deutschen „Experten“ zwei Grundregeln der EU.

FOLGE 6 einer zehnteiligen Serie zur Krise im deutschen Europa.

Bisher galt es als Konsens, dass wir kein „deutsches Europa“, sondern ein „europäisches Deutschland“ wollen.

Doch spätestens seit der scheidende US-Präsident Obama die Kanzlerin zur „Führerin der freien Welt“ ausgerufen hat, scheint auch dieser Konsens überholt.

Plötzlich wird sogar in Berlin der Ruf laut, dass Deutschland man Merkel endlich in Ruhe das Kommando überlassen solle.

Sogar M. Fratzscher, der Chef des DIW, hat nun einen flammenden Appell veröffentlicht: Deutschland und seiner Kanzlerin solle man doch nun  – bitte schön – die Führung überlassen.

Das ist erstaunlich, denn bisher galt Fratzscher weder als Nationalist noch als Merkel-Anhänger. In seinem Text kritisiert er denn auch die überzogene deutsche Austeritäts-Politik und andere Fehler der Kanzlerin.

Am Ende kommt er jedoch zu dem überraschenden Schluss, dass das Hauptproblem nicht die Merkel’schen Politikfehler, sondern das „Deutschland-Bashing“ sei.

Die „anderen“ – sprich Frankreich, Italien, die EU in Brüssel – sollten Merkel ‚mal machen lassen, statt immer nur herumzunörgeln. Zitat:

Other EU governments should stop bashing Germany as a way to deflect attention from their own failings. In recent years, their attacks have gone too far, and have been counterproductive. Germany needs its partners to come to the table, and to engage in a constructive dialogue about concrete solutions to Europe’s deepening crisis.

Das ist starker Tobak. Denn Fratzscher reiht sich damit in die Riege der Apologeten der Merkel’schen Politik ein. Fast wie H. Münkler erklärt er Deutschland zum Zentrum und „die anderen“ zu peripheren Störenfrieden.

Dabei übersieht Fratzscher zwei Grundregeln (und Grundantriebe) der bisherigen EU-Geschichte:

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1. Ist die deutsche Politik (wie jede nationale Politik) in sich selbst widersprüchlich – es gibt keinen „alternativlosen“ deutschen Kurs, auch die deutsche Politik ist konfliktbeladen (siehe Griechenland, Flüchtlingskrise, Türkei…)

2. Hat die EU in ihren besten Jahren stets vom Widerspruch zwischen Nord und Süd, Liberalismus und Etatismus, Protestantismus und Katholizismus profitiert. Er wurde im deutsch-französischen „Duo“ produktiv gewendet.

Die europäische Dialektik ist stillgelegt

Etwa bis 2005, also bis zum französischen „Non“ zur EU-Verfassung, wurde Europa vom dialektischen Widerspruch zwischen Deutschland und Frankreich vorangetrieben. Berlin sprach für den Norden, Paris für den Süden.

Frankreich mag mittlerweile zu schwach geworden sein, diese Rolle auszufüllen. Doch warum wurde es zu schwach? Könnten andere Länder hinzutreten? Das sind Fragen, ohne die sich die EU-Krise nicht verstehen lässt.

Wer sie stellt, muss auch an den Dreiergipfel von Ventotene 2016 erinnern, bei dem Merkel Gastgeber Renzi und Frankreichs Hollande ins Leere laufen ließ. Warum? Duldet sie keinen Widerspruch, fürchtet sie Teilhabe?

Es geht um deutsche Interessen

Auch die Widersprüche innerhalb der deutschen Europapolitik werden vielen zu wenig beleuchtet. Warum kann sich die SPD nicht durchsetzen, die eine Abkehr vom Austeritätskurs Merkels fordert?

Und wie sieht es mit den eklatanten Widersprüchen in der deutschen Flüchtlings-, Türkei- und Russlandpolitik aus, die jeden Tag größer werden und die gesamte EU vor schier unlösbare Probleme stellen?

Die Anhänger der deutschen „Führung“ stellen diese Fragen nicht, sie wollen sie nicht stellen – denn dann müssten sie auch nach den wirtschaftlichen und politischen Interessen fragen, die dahinter stehen…

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Folge 7 folgt in den nächsten Tagen, stay tuned! Wer nichts verpassen will, kann hier tägliche Updates bestellen (bitte klicken)