Wenn deutsche Experten die europäische Sicherheit “aus Sicht der Ukraine” definieren

Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Deutschlands wichtigster regierungsnaher Thinktank, hat eine Studie zur Sicherheitspolitik in der Ukraine vorgelegt. Darin werden deutsche, europäische und ukrainische Interessen systematisch und fahrlässig miteinander vermischt.

Schon seit langem fordern wir in diesem Blog, deutsche und europäische Interessen klar zu formulieren, um daraus eine rationale Europapolitik abzuleiten. Die SWP-Studie gibt vor, dies zu tun – scheitert jedoch schon im Ansatz.

Sie nimmt – wie fast alle Studien – von vornherein die Perspektive der Ukraine ein und postuliert – ohne weitere Begründung – dass diese mit der deutschen und europäischen identisch sei. Hier die entsprechenden Passagen – und meine Kommentare (kursiv)

(Der zitierte Abschnitt heißt “Ukrainische und europäische Interessen”. Verfasst wurde er – wie die ganze Studie – von C. Major und M. Klein. Der Text steht hier)

Aus Sicht der Ukraine sind verlässliche Sicher­heitszusagen notwendig, weil vor­he­rige Ansätze gescheitert sind: Weder das Budapester Memorandum (1994) noch die politische Unterstützung westlicher Staaten konnten die Annexion der Krim und die De­stabilisierung des Donbas ab 2014 verhindern, ebenso wenig den Angriff im Februar 2022. Mit dem Budapester Memo­randum gab die Ukraine die auf ihrem Territorium stationierten Atomwaffen ab, wofür Russ­land, Großbritannien und die USA sich ver­pflichteten, die Souveränität und terri­to­riale Integrität der Ukraine zu achten. Doch waren keine konkreten Sicher­heits­zusagen vorgesehen, sondern nur die Ver­pflichtung, im Konfliktfall zu beraten und den VN-Sicherheitsrat anzu­rufen. Russland ver­letzte das Budapester Memorandum mit der Annexion der Krim 2014. Daher for­derte Selenskyj im Mai 2022, erneute Zusagen dürf­ten »keine Absichts­erklärungen« sein, son­dern müssten »kon­krete Garantien« be­in­hal­ten, »was genau von wem garantiert ist«.

Es geht schon gut los: “Aus Sicht der Ukraine”. Und was ist mit der deutschen und europäischen Sicht? Was ist mit Minsk I und II – den Friedensinitiativen, die Berlin und Paris ausgehandelt hatten und die nicht zuletzt an der Ukraine gescheitert sind?

Dahinter steht die Annahme, dass die Sicherheit der Ukraine nicht nur bei fort­gesetzten Kriegshandlungen oder einem Waffenstillstand fragil wäre, sondern selbst dann, wenn sie ihr gesamtes Territorium befreien könnte. Denn Russlands Intentionen bleiben aggressiv, solange es – wie von Prä­sident Putin in geschichtsrevisionistischen Essays dargelegt – die territoriale Integrität, staatliche Souveränität und natio­nale Iden­tität der Ukraine in Frage stellt und Kriegs­führung als legitimes und effi­zientes Mittel ansieht, seine Interessen durch­zusetzen. Zudem hat Russland im Sep­tem­ber 2022 die Annexion von vier weiteren ukrai­nischen Gebieten (Donetsk, Luhansk, Zaporizhya, Cherson) proklamiert. Der rus­si­schen Ver­fassung zufolge dürfen sie – wie die Krim – nicht wie­der zurückgegeben werden. Ihre voll­ständige Eroberung und Integration bleiben deshalb russisches Staatsziel. Die Ab­wesenheit oder vorübergehende Ab­nahme von Kriegshandlungen gegen die Ukraine wären demnach nur mangelnden Fähig­keiten oder taktischen Überlegungen Russ­lands geschul­det, nicht aber der Aufgabe der Maximal­ziele. Solange die russische Füh­rung an ihrem neoimperialen und aggres­siven Ansatz fest­hält, droht ein erneuter Angriff.

Diese Passage über Russland ist spekulativ. Sie klammert die Vorgeschichte des Krieges aus. Wie der Krieg ausgeht, wird auch nicht berücksichtigt – dabei ist das entscheidend für die künftigen Beziehungen.

Es liegt aber auch im Interesse Deutschlands, der Mitglieder der Europäischen Union (EU) und der Nato, die Sicherheit der Ukraine lang­fristig zu gewährleisten. Ers­tens würde eine von Russland gänzlich oder in Teilen be­setzte Ukraine die Sicherheitslage in Europa massiv verschlechtern. Die Statio­nie­rung russischer Truppen auf ukrainischem Territorium zusammen mit dem Ausbau von Belarus zu einem militärischen Vor­posten könnte Russlands Fähigkeiten zur Macht­projektion gegenüber der EU und der Nato erweitern. Ein russischer Erfolg würde in Moskau die Überzeugung festigen, dass sich außenpolitische Interessen mit militä­ri­scher Gewalt durchsetzen lassen. Die beiden Pfei­ler der Militarisierung der russi­schen Außen­politik – Fähigkeiten und Intentionen – las­sen sich nur brechen, wenn Russland eine eindeutige Niederlage erleidet und die staat­liche Souveränität und territoriale Inte­grität der Ukraine langfristig gesichert werden.

Wiederum werden Russland bestimmte Absichten unterstellt. Daraus werden dann vermeintliche Interessen Deutschlands und der EU abgeleitet. Dabei müsste man umgekehrt vorgehen und analysieren, ob Russland willens und in der Lage wäre, Deutschland oder die EU anzugreifen (bisher sieht es nicht so aus)! Nötig wäre auch, eine “eindeutige” russische Niederlage zu definieren und die Folgen für die Sicherheit in Europa abzuschätzen. Dies könnten nämlich verheerend sein (Stichwort Atomarsenal)

Zweitens trägt die militärische Unterstüt­zung für die Ukraine schon jetzt zur Vertei­digung der regelbasierten Ordnung und da­mit auch zu Sicherheit, Stabilität und Wohl­stand Deutschlands bei. Schließlich zielt Moskaus Angriff nicht allein auf die Ukraine, sondern ebenfalls auf eine Neugestaltung der europäischen Sicherheitsordnung zu­gunsten Russlands. Das zeigen etwa die im Dezember 2021 von Moskau vorgelegten Vertragsentwürfe für die USA und die Nato. Darin fordert Moskau ein Ende der »Politik der offenen Tür« der Allianz sowie einen Rückzug aller Truppen und Waffen, die seit 1997 in ihren neuen Mitgliedsländern sta­tio­niert wurden. Glaubwürdige reziproke Schritte für Russland schlug Moskau nicht vor. Das unterstreicht sein Ziel, im Osten der Nato eine Pufferzone zu errich­ten, wäh­rend es den postsowjetischen Raum als ex­klu­sive Einflusszone betrachtet, in der es die Souveränität der Staaten im Sinne seiner he­ge­monialen Dominanz ab­lehnt. Die Sicher­heit und Souveränität der Ukraine zu ge­währ­leisten ist damit auch Sicherheitsvorsorge für EU und Nato.

Es wird nicht ersichtlich, warum die Ukraine-Hilfe “schon jetzt” zu Sicherheit, Stabilität und Wohl­stand Deutschlands beitragen soll. Je länger der Krieg dauert und je tiefer Deutschland und die EU verstrickt sind, desto mehr wächst die Unsicherheit in Europa. Die russischen Vertragsentwürfe von 2021 sind längst überholt, daraus lassen sich keine Aussagen über die Zukunft ableiten.

Drittens wäre die Sicherheitslage in Eu­ropa stabiler, wenn nach dem Krieg eine der stärksten und kampferprobtesten Ar­meen Europas in die Nato integriert würde. Blie­ben die ukrainischen Streitkräfte außer­halb, hätten die Europäer weniger Mög­lich­keiten, deren Ausrichtung zu be­gleiten, was destabilisierende Folgen haben könnte.

Hier lassen die Autorinnen die Katze aus dem Sack: Es geht um den Nato-Beitritt. Die Ukraine schafft jedoch nicht mehr Sicherheit für den euroatlantischen Raum, wie es der Nato-Vertrag fordert – sie hat bisher nur zu mehr Unsicherheit bis hin zur Gefahr einer direkten Konfrontation mit Russland beigetragen.

Viertens erfordert der wirtschaftliche und infrastrukturelle Wiederaufbau der Ukraine externe Sicherheit. Die Weltbank veranschlagte im Februar 2023 die Kosten für den Wiederaufbau auf 411 Milliarden US-Dollar. Ein solch enormer Einsatz, der staatliche und private Investitionen voraus­setzt, braucht sichere Rahmenbedingungen. Scheitert oder stockt der Wiederaufbau, könnte das die sicherheitspolitische Lage verschärfen und die demokratischen Reform­prozesse ver­langsamen.

Was ist “externe Sicherheit”? Der Wiederaufbau wird nur gelingen, wenn Frieden in der Ukraine herrscht. Dies sollte das erste Ziel sein – und nicht der Nato-Beitritt, wie die Autorinnen fordern.

Nicht zuletzt muss der EU-Beitritt der Ukraine abgesichert werden. Das Land hat seit Juni 2022 Kandi­datenstatus. Laut Arti­kel 42 Absatz 7 des EU-Vertrags schulden die Mitglieder ein­ander Unterstützung im Falle eines bewaff­neten Angriffs. Die EU-Länder sind jedoch ohne US-Fähig­keiten bereits jetzt nicht in der Lage, die EU zu verteidigen.

Oha, wunder Punkt. Wenn die EU-Länder nicht einmal in der Lage sind, sich selbst zu verteidigen, können sie wohl kaum “Sicherheitsgarantien” für die Ukraine geben. Es ist deutsches und europäisches Interesse, erstmal für die eigene Sicherheit zu sorgen – und nicht, diese von einem Land im Krieg (der Ukraine) abhängig zu machen!

Mehr zum Krieg in der Ukraine hier. Siehe auch “China, Ukraine, Krieg: wo bleibt das europäische Interesse?