Was von der Leyen nicht gesagt hat
Klimaschutz, Flüchtlingspolitik und Digitalisierung: EU-Kommissionschefin von der Leyen hat nichts ausgelassen. Ihre erste Rede zur “Lage der Union” war ein politisch korrektes, grün angehauchtes Wunschkonzert, sogar der Kampf gegen Rassismus kam vor. Doch einige wichtige Punkte fehlen.
Auffällig war zunächst, wie wenig Platz vdL dem miserablen Zustand der EU eingeräumt hat. Die Union war schon vor der Coronakrise schwer krank und musste künstlich beatmet werden. Nun erleben wir einen neuen Schwächeanfall – mit nationalen Reisewarnungen und neuer Abschottung, auch in Deutschland.
Doch die CDU-Politikerin ging darauf nur am Rande ein. Eine EU-weite Koordinierung der Corona-Maßnahmen hat sie nicht angekündigt – obwohl das Europaparlament dies immer wieder fordert. Der Flickenteppich dürfte also weitergehen, mit allen negativen Folgen für Reisen, Handel und Binnenmarkt.
Zweites großes Versäumnis: Keine Antwort auf das Drama auf Lesbos, kein Hinweis auf eine “europäische Lösung” der neuen Flüchtlingskrise. Das deutsche Angebot, mehr als 1500 Asylbewerber aufzunehmen, hat vdL nicht einmal erwähnt. Wie die angekündigte Asylreform aussehen soll, ließ sie offen.
Dritte Leerstelle: die Türkei. Die Kommissionschefin erklärte sich zwar mit Griechenland und Zypern solidarisch, die von Ankara gemobbt und bedroht werden. Doch sie kündigte keine EU-Hilfe oder gar Gegenmaßnahmen an. Das Wort “Sanktionen” kam nicht vor, dabei werden sie vom Parlament gefordert.
Dies lässt nichts Gutes für den EU-Sondergipfel in der kommenden Woche ahnen. Von der Leyen ist offenbar auf der deutschen Linie des “Dialogs” mit Sultan Erdogan. Sie will auch ein neues Lager auf Lesbos errichten, was eine Fortsetzung des gescheiterten Flüchtlingsdeals erwarten lässt…
Siehe auch “Update: Die Schlafwandler aus Berlin“ und “Merkels Flüchtlingsdeal – das sollte man wissen“
P.S. Zur Lage in Polen und Ungarn hat vdL auch nicht viel gesagt. Vor allem ein Stichwort fehlte: Das Artikel-7-Verfahren, mit dem Verstöße gegen die EU-Grundwerte geahndet werden können…
European
16. September 2020 @ 11:49
Wenn Deutsche Lager einrichten lassen oder sogar als “Pilotprojekt” fördern, wie unlängst im DLF zu lesen war, bekomme ich Schüttelfrost.
Peter Nemschak
16. September 2020 @ 22:11
Solange Leute wegen notwendiger Lager Schüttelfrost bekommen, kann aus der EU nichts werden. Wir müssen unkontrollierte Immigration mit allen Mitteln verhindern. Die EU ist kein Überlaufbecken für Menschen, die in ihren Heimatländern wenig lebenswerte Bedingungen haben. Klare Signale setzen: es gibt eine jährliche Quote von Asylmöglichkeiten. Ist diese erschöpft, tough luck. Keine falschen Hoffnungen wecken. Die Interessen der ortsansässigen Bevölkerung werden derzeit den Rechten ausgeliefert. kein Wunder, dass diese stärker werden. Die linken Träumer schaffen ihre rechten Gegner selber.
European
17. September 2020 @ 09:16
Und das hat gar nichts mit linken Träumereien zu tun. Solange solch plakative Antworten auf komplexe Probleme gegeben werden, werden die Probleme tatsächlich nicht gelöst. Die Migration nach Europa ist schon sehr viel älter und hat in allen Ländern linke wie rechte Regierungen überdauert. Dass Deutschland in 2015 mal mit in das Flüchtlingsboot geholt wurde, war eher eine Ausnahme. In Italien, Spanien, Frankreich, Griechenland und Malta kennt man das seit Jahrzehnten. Der Norden hat es ignoriert und hin und wieder mal schlaue Ratschläge nach Süden geschickt. Same procedure as every year.
Die Welt hat für unsere Probleme kein Ausland. Wir müssen das, was wir hier verzapfen, schon selber lösen und mit unserer Art zu wirtschaften anfangen, unsere Beteiligungen an sogenannten regime changes überdenken und auch unsere – bisweilen arrogante – Art ablegen, im Besitz der alleinigen Wahrheit zu sein. Ja, und ich finde immer noch, dass Deutsche keine Lager mehr bauen sollten. Es gibt noch viel zu viele Herrenmenschen, die im Sinne der Altnazis sozialisiert wurden, wie sich das in jeder Krise wieder neu herauskristallisiert. Dazu muss man sich nur mal die Kommentarspalten unter Artikeln in der WELT und auch anderene online Portalen durchlesen. Die werden nicht von rechts eingefangen. Die sind schon dort.
Die technologische Entwicklung tut noch ihr übriges. Es ist heute ein leichtes, Informationsmaterial – gefälscht oder authentisch – von überall her zu bekommen. Ende der 90er, Anfang 2000 habe ich für eine Entwicklungshilfeorganisation in Deutschland gearbeitet. Damals hatte vielleicht jedes Dorf in Afrika einen Fernseher irgendwo stehen. Heute kosten Handys nahezu nichts, besonders nicht auf dem Gebrauchtmarkt. Man hat also sein Infocenter immer bei sich. Auch in Afrika. Die Kriege tun noch ihr übriges.