Die Schlafwandler aus Berlin

Berlin gerät im Streit um Belarus, Russland und die Türkei zwischen alle Fronten, Brüssel hält einen Videogipfel mit Peking ab – und London warnt vor einer angeblichen “Lebensmittelblockade”: Die Watchlist EUropa vom 14. September 2020.

Belarus, Nawalny, Moria, Brexit – und jetzt auch noch offene türkische Drohungen gegen Frankreich: Die EU schiebt einen ganzen Berg von Problemen vor sich her. Doch der deutsche Ratsvorsitz wirkt abwesend und gleichgültig. Seit dem EU-Finanzgipfel im Juli ist Kanzlerin Merkel und ihren Ministern eigentlich nichts mehr gelungen. Sie haben zwar noch einen Sondergipfel zu Belarus angeschoben, doch die angekündigten Sanktionen gegen das Regime in Minsk lassen auf sich warten.

Das liegt daran, dass Merkel einen anderen wichtigen Konflikt – mit dem türkischen Sultan Erdogan – schleifen lässt. Merkel möchte sich Erdogan für einen neuen Flüchtlingsdeal warm halten, und greift daher nicht in den Streit um Erdgasvorkommen im Mittelmeer ein.

Dies hat Griechenland und Zypern gegen den deutschen Ratsvorsitz aufgebracht. Beide Länder fordern EU-Sanktionen gegen Erdogan. Da Merkel darauf nicht eingeht, blockiert Zypern nun die Strafmaßnahmen, die für Belarus bestimmt sind.

Schlimmer noch: Mittlerweile hat sich der Konflikt auf Frankreich ausgeweitet – Erdogan droht dem wichtigsten EU-Partner Deutschlands. „Legen Sie sich nicht mit der Türkei an“, sagte er. „Herr Macron, Sie werden noch viel mehr Probleme mit mir haben.“

Eine Provokation – die Merkel schweigend übergeht. Die Kanzlerin äußert sich auch nicht zu der massiven Aufrüstung, die Griechenland nun angekündigt hat. Die EU, die eine “Friedensunion” sein will, steht am Rande des Krieges, und der deutsche Vorsitz tut – nichts.

Dasselbe gilt für Nawalny, Moria und den Brexit. Keine deutsche Führung, überall versucht Merkel, den Schwarzen Peter von Berlin nach Brüssel weiterzugeben. Dabei sollte sie die Regie übernehmen und heiße Themen wie Moria auf die EU-Agenda setzen.

Als Ratsvorsitzende könnte sie einen Krisengipfel einberufen und dafür sorgen, dass die Migranten in Sicherheit gebracht, vielleicht sogar auf die EU-Staaten verteilt werden. Für eine überzeugte “Flüchtlingskanzlerin” wäre das das Gebot der Stunde.

Stattdessen sitzt Merkel alles aus – und sieht zu, wie sich die Krisen an allen Fronten zuspitzen. Lange kann das nicht mehr gut gehen. Wenn die Schlafwandler aus Berlin nicht bald aufwachen, droht schon beim nächsten EU-Gipfel in zwei Wochen ein Eklat…

Watchlist

Es sollte der Höhepunkt des deutschen EU-Vorsitzes werden: Der China-Gipfel, der nun im Schrumpfformat als Videokonferenz stattfindet. Kanzlerin Merkel darf ihn zwar noch leiten, doch mit Ergebnissen rechnet eigentlich niemand mehr. Sowohl beim Investitionsabkommen als auch bei den Menschenrechten kommen EUropäer und Chinesen nicht voran. Grüne EU-Politiker hoffen sogar schon, dass die Annäherung im Sande verläuft – und nach der US-Wahl durch eine transatlantische Front gegen Peking ersetzt wird…

Was fehlt

Die neuesten Eskapaden des britischen Premiers Johnson. Im Streit um Irland und den Brexit-Vertrag behauptet der Tory-Leader nun, die EU plane eine “Lebensmittelblockade” zwischen Nordirland und dem restlichen Königreich. Davon ist in Brüssel allerdings nichts bekannt, auch Chefunterhändler Barnier hat nichts dergleichen behauptet. Derweil warnen Johnsons Amtsvorgänger Blair und Major davor, die Glaubwürdigkeit Großbritanniens infrage zu stellen und allzu heftig am Brexit-Deal zu rütteln…

Das Letzte

Ist das noch Schutz, oder schon Schikane? Beim Treffen der EU-Finanzminister in Berlin am Wochenende wurden Journalisten aus Belgien, Portugal und anderen EU-Ländern ausgegrenzt. Angeblich aus Sorge vor möglicher Ansteckungsgefahr mit Corona wurden sie nicht in das Pressezentrum eingelassen, berichtet “Le Soir”. Die “exzessive Linie” des deutschen Ratsvorsitzes führe auch dazu, daß kaum noch EU-Treffen in Brüssel stattfinden können, kritisiert das belgische Blatt. – Mehr dazu hier