Warum sich Merkel bewegen mußte
Kanzlerin Merkel hat wieder eine abrupte Wende hingelegt. Der Recovery-Plan, den sie mit Präsident Macron vorgelegt hat, hat wenig mit ihren bisherigen Positionen gemein. Doch sie hatte keine Wahl – Merkel mußte sich bewegen.
Am liebsten hätte sie wohl auch diese Entscheidung ausgesessen. Bei mehreren EU-Gipfeln hat sich die Kanzlerin denn auch keinen Millimeter bewegt. EU–Schulden lehnte sie ebenso ab wie Finanz-Transfers in den Süden.
Doch die Forderungen wurden immer lauter, der Druck immer größer. Am Ende hatte Macron eine Allianz von neun gleichgesinnten Staaten geschmiedet, die finanzielle Solidarität fordern. Deutschland geriet in die Minderheit.
Doch auch das hätte wohl nicht genügt – wäre da nicht auch noch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Anleihekäufen der Europäischen Zentralbank gekommen. Seither sitzt Deutschland auf der Anklagebank.
Kommissionschefin von der Leyen droht sogar mit einem Vertragsverletzungsverfahren, weil die Karlsruher Richter sich anmaßen, über dem EU-Recht und dem Europäischen Gerichtshof in Luxemburg zu stehen. Das hat auch Merkels Standing beschädigt.
Zudem ist die deutsche Position in der Coronakrise unhaltbar geworden. Zu Beginn der Pandemie konnte Merkel noch damit argumentieren, Deutschland sei genauso betroffen wie alle anderen EU-Länder – und Forderungen aus Südeuropa abwehren.
Nun, da die Corona-Welle abebbt, zieht dieses Argument jedoch nicht mehr. Deutschland steht als größter Gewinner da – nicht nur bei der Seuchen-Bekämpfung, sondern auch bei der Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Krisenfolgen.
Als Gewinner muss man jedoch großzügiger sein – insbesondere dann, wenn man auch künftig von der EU und ihrem lukrativem Binnenmarkt profitieren möchte. Dies hat Merkel erkannt – und sich gerade noch rechtzeitig bewegt.
Dabei ist sie Macron und den Südeuropäern nicht weiter entgegen gekommen, als sie mußte – sie hat nur unhaltbar gewordene Positionen geräumt…
Dies ist ein Auszug aus einem Beitrag für den Cicero, das Original steht hier. Siehe auch “Jetzt wird es ernst – auch für Merkel”
P.S. Zu ähnlichen Schlüssen kommt P. Taylor bei “Politico”. Auch er stellt die Bedeutung des BVerfG-Urteils und die Besonderheiten der Coronakrise heraus, die Merkel zum Handeln gezwungen haben…
Holly01
21. Mai 2020 @ 09:49
Zwei links, um zu zeigen, warum es keinen Sinn macht, die Staaten zu Sparern zu machen:
” https://finanzmarktwelt.de/aktienmaerkte-warum-die-aktienmaerkte-seit-wochen-steigen-166905/ ”
und “https://finanzmarktwelt.de/aktienmaerkte-warum-die-aktienmaerkte-seit-wochen-steigen-166905/2/ ”
Natürlich eine Einzelstimme. Aber eben auch viele Informationen. Da kann man eher abschätzen, was von EZB der EU und den Staaten erwartet wird.
vlg
European
21. Mai 2020 @ 10:36
Die Gewinne an den Aktienmärkten haben tatsächlich keinerlei Substanz. Eigentlich wäre es sogar sinnvoll gewesen, zumindest in Teilen die Börsen zu schließen. Im Moment wird spekuliert, wer die höchsten staatlichen Hilfen bekommt oder aber wer zuerst einen Impfstoff hat.
Im Text heißt es:
“Klar; haben wir seit geraumer Zeit eine Fehlentwicklung in der Wirtschaft, unter anderem mit der riesigen Verschuldung von Staaten, die eine Rezession unweigerlich macht.”
Ab hier braucht man eigentlich nicht weiterlesen, denn der Autor hat keine Ahnung von der Funktionsweise unseres Geldsystems in dem Schulden und Guthaben zwei Seiten derselben Medaille sind. Es gibt kein Sparen ohne Schulden und wenn in einer Volkswirtschaft alle Sektoren – Privathaushalte, Staat und Unternehmen zu Sparern werden, muss man die Frage beantworten, wer die dazugehörigen Schulden macht. Z.B. können wir als Privatpersonen nur sparen, weil sich die Bank bei uns verschulden muss. Wir kommen überhaupt erst zu Sparguthaben, weil jemand einen Initialkredit aufgenommen hat, der Geld in den Umlauf gebracht hat.
In Deutschland z.B. muss diese Frage nach dem Schuldner das Ausland lösen, was u.a. zu den 750 Mrd “Auslandsvermögen” führt, wie sie im letzten Bundesbankbericht ausgewiesen wurden. In USA z.B. ist das Ausland Sparer. Da könnten unsere 750 Mrd. z.B. auch stecken, in amerikanischen Staatsanleihen – also in deren Schulden. Japan’s Staatsverschuldung liegt bei 237% des BIP. Niemand käme auf die Idee, dass Japan zahlungsunfähig wäre.
Dürften sich Privatpersonen in Deutschland nur bis max. 60% ihres Jahresnettoeinkommens verschulden, stünde auch im Schwabenländle kein einziges Einfamilienhaus. Die Grenze war absolut willkürlich und ohne jede Substanz. Und falsch außerdem.
Eigentlich wären die Unternehmer in jedem Land der klassische “Schuldenträger”, weil dort investiert wird, dort die Belebung der Wirtschaft initiiert wird. Aber die Politik der letzten Jahre/Jahrzehnte, der Irrglaube an trickle-down und ähnliche ökonomische Religionen, hat die Unternehmen im Schnitt zu Nettosparern gemacht. In Deutschland sehr stark nach Einführung der Agenda 2010. Eine unglaubliche Umverteilung von unten nach oben.
Der Schuldenhype ist auch deshalb völlig daneben, weil Staatsverschuldung eben anders läuft, als Privatverschuldung. Z.B. ist die Versicherungsbranche gehalten, ca. 80% ihrer Einnahmen in Staatsanleihen anzulegen, weil diese als besonders sicher gelten. Staatsanleihen werden gehandelt, so dass niemand bis zum Ende der Laufzeit auf sein Geld warten muss. Am Ende kann durch roll over ein auslaufendes Papier durch eine Neuemission ersetzt werden uvm.
Holly01
20. Mai 2020 @ 20:05
Nur am rande zur Sache:
Die Polen zeigen der Welt, wie ziviler Ungehorsam funktioniert:
” https://www.heise.de/tp/features/Dein-Schmerz-ist-besser-als-meiner-4725284.html ”
Tja, die Politik muss eben doch reagieren, wenn die Menschen sich verweigern.
Wo sind eigentlich unsere kritische Musik?
vlg
European
20. Mai 2020 @ 17:08
Nichts neues also, sondern nur ein Weiter-So. Ich glaube nicht, dass die Südländer sich das gefallen lassen werden. Macron ist auch nicht mehr stabil und Marine LePen braucht nur noch die Arme auszubreiten. Sie ist außerdem nicht die einzige im französischen Parteienspektrum, die einen sofortigen Austritt aus der EU fordert. Da ist auch noch Jean-Luc Mélenchon, der beim letzten Mal nur sehr knapp die Endausscheidung verpasst hat.
Ergänzend dazu drei sehr lesenswerte Artikel:
https://braveneweurope.com/juanlaborda-how-southern-europe-has-financed-germany-and-the-netherlands
und
https://www.liberation.fr/politiques/2020/05/18/macron-merkel-la-resurrection_1788748
sowie diesen sehr aufschlussreichen Artikel aus 2012
https://www.businessinsider.com/richard-koo-the-entire-crisis-in-europe-started-with-a-big-ecb-bailout-of-germany-2012-6?r=US&IR=T
Merkel wollte die EU als Markt und mehr nicht. Mehr hätte Visionen erfordert, die sie nicht hat. Sie kann gut moderieren und versteht es, sich als Trendsetterin vor einen bereits fahrenden Trend zu setzen.
Ein Land wie Deutschland, das zuhause seit Jahrzehnten auf Verschleiß fährt, dessen Straßen-Schienen-, Gebäude-, und Digital-Infrastruktur marode, dessen Bildungssystem unterfinanziert und ebenso hoffnungslos unterbesetzt ist wie die Justiz, verlangt von anderen Reformen.
Das muss man erst mal hinkriegen.