Warten auf Deutschland

Es ist schon auffällig: Je näher der Wahltag in Berlin rückt, desto mehr heiße Eisen verschwinden von der Tagesordnung in Brüssel. Und umso so stärker wird das Gefühl, dass die gesamte EU nach der Pfeife Deutschlands tanzt.

„Bitte nicht stören“, scheint die ungeschriebene Regel in Berlin zu heißen, die die EU-Politiker in Brüssel zunehmend nervt. Sie haben das Gefühl, die Welt drehe sich nur noch um Deutschland.

Eine Zeitlang nahmen dies die EU-Politiker in Brüssel, Paris oder Athen klaglos hin. Schließlich sind sie es ja gewohnt, bei Wahlen in einem wichtigen EU-Land Rücksicht nehmen zu müssen.

Doch diesmal geht die Wahlpause selbst Eurogruppen-Chef Dijsselbloem zu weit. „Vielleicht sieht die Welt in anderthalb Wochen schon ganz anders aus“, seufzte der Niederländer letztes Wochenende, nachdem Berlin mal wieder Entscheidungen vertagt hatte (siehe “Mit Kanonen auf Schäuble”).

Zunehmend genervt sind auch Iren, Portugiesen und Griechen. Denn sie warten auf neue Hilfszusagen aus Brüssel. “Griechenland steht vor Wahlen, aber die finden in Deutschland statt”, titelte “Ta Nea”.

Das Blatt aus Athen spielte darauf an, dass die Entscheidung über ein neues Hilfspaket von der nächsten Regierung in Berlin abhängt.

Immerhin sind sich die meisten deutschen Wähler der griechischen Problematik bewußt. Viele andere, zum Teil noch wichtigere, Themen hingegen stehen auf der Warteliste und werden ignoriert oder tabuisiert.

Dabei geht es um nicht mehr und nicht weniger als um die Zukunft der EU im “deutschen Europa”, wie der Sozialwissenschaftler Ulrich Beck die neue, von Deutschland dominierte Lage beschreibt.

Vor allem in Sachen Eurokrise steht viel an, wie ich schon Anfang dieser Woche in diesem Blog erläutert habe (siehe “Was nach der Wahl kommt”).

Auf der Brüsseler Warteliste stehen aber auch noch andere, unangenehme Themen. So fordert die EU weiter einen Mindestlohn und mehr Klimaschutz für Neuwagen – auch wenn dies Merkel und die mit ihr verbundene Industrieloby nicht wahrhaben wollen.

Für den Mindestlohn ging schon mal Frankreichs Verbraucherminister Hamon auf die Barrikaden. Für strengere CO2-Werte bei Autos will sich das Europaparlament stark machen – gleich nach der Wahl.

Zudem stehen Entscheidungen zu den EU-Beitrittskandidaten Türkei und Serbien an. Beide hatte Merkel auf den Herbst vertröstet, um ihre christlich-konservative Wählerschaft nicht zu verschrecken.

Doch bald müssen sich auch stramm rechte CDU/CSU-Anhänger der Realität stellen: Deutschland kann zwar missliebige EU-Themen wegschieben; aus der Welt sind sie deswegen noch lange nicht.

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