Wahl vorbei, Knüppel aus dem Sack!
Wie erwartet, hat die EU-Kommission die Eröffnung eines Defizit-Verfahrens gegen Italien empfohlen. Nun sieht sie sich dem Vorwurf ausgesetzt, taktisch zu agieren. Brüssel habe bewußt die Europawahl abgewartet – was weder demokratisch noch zielführend wäre.
Gilt neuerdings die Devise „Wahl vorbei, Knüppel aus dem Sack“? Das wollten mehrere Journalisten bei der Pressekonferenz der EU-Kommission wissen. Währungskommissar Pierre Moscovici hatte große Mühe, zu begründen, warum er während des Wahlkampfs nicht handeln wollte.
Ein erstes Defizit-Verfahren hatte Moscovici im Herbst eingestellt, nachdem sich die italienische Regierung zu Korrekturen bereit erklärt hatte. Schon damals stand der Verdacht im Raum, dass Brüssel auf die Europawahl Rücksicht nahm – man wollte den Populisten keinen Zucker geben.
Nun, kaum zehn Tage nach er Wahl, holt Moscovici denselben Knüppel aus dem Sack wie im vergangenen Herbst. Trotz der mittlerweile erfolgten Korrekturen am italienischen Budget. Die bizarre Begründung: Jetzt gehe es um Defizit-Zahlen aus 2018, und nicht (wie im Herbst) um das Budget für 2019.
Das ist Augenwischerei. Denn im Herbst wollte sich Moscovici auf das zu hohe Defizit stützen, das die Vorgänger-Regierung in Rom hinterlassen hatte – jene Regierung also, die die Empfehlungen aus Brüssel brav umsetzte. Auch die miesen Zahlen aus 2018 sind teilweise auf diese alte Regierung zurückzuführen.
Selbst das Kalkül, durch eine taktische Verfahrens-Pause zu verhindern, dass die Populisten in Rom stärker werden, ist nicht aufgegangen. Im Gegenteil – Matteo Salvini und seine Lega haben bei der Europawahl noch zugelegt! Salvini könnte demnächst sogar allein regieren.
Die Wahl-Taktik der EU-Kommission ist also nicht aufgegangen. Und die Budget-Korrektur hat auch nicht die gewünschte Wirkung gezeigt. Könnte es sein, dass wir es hier mit einem Demokratie-Problem zu tun haben, an das sich nun auch noch ein Governance-Problem der EU-Finanzpolitik anschließt?
Die Populisten sind in Rom ja überhaupt erst an die Macht gekommen, weil die Rezepte aus Brüssel weder mehr Wachstum noch niedrigere Schuldenberge gebracht haben…
Siehe auch „Nächste Krise: Italien“
Peter Nemschak
6. Juni 2019 @ 19:18
Was heißt demütigend? Ohne Regeln funktioniert eine Währungsunion nicht. Absurd, offenbar haben manche, die hier posten, Mitleid mit den Populisten in Italien, die statt unpopuläre Maßmahmen zu ergreifen, Wahlgeschenke verteilen. Eine verkehrte Welt.
ebo
6. Juni 2019 @ 21:19
Was war nochmal mit den Regeln in Sachen Leistungsbilanz-Überschuss? Deutschland und die Niederlande verstoßen seit Jahren dagegen, und gefährden so das Gleichgewicht der Eurozone. Und dann sind da noch die Staaten, die Steuervermeidung ermöglichen und andere EU-Länder um wohlverdiente Einnahmen bringen. Was tut die EU-Kommission?
Kleopatra
7. Juni 2019 @ 00:06
Regeln können auch in einer demütigenden Weise durchgesetzt werden. Wenn souveräne Staaten ihre Haushaltsentwürfe mit zeitlichem Vorlauf einer Bürokratie zur Kommentierung und Abgabe von Empfehlungen vorlegen müssen; wenn diese Bürokratie auch eine Art Strafgewalt hat; wenn dieses Verfahren wesentlich auf Insistieren eines einzigen EU-Mitgliedslandes eingeführt wurde; wenn ein französischer Präsident vor seiner Wahl den „Fiskalpakt“ kritisiert hatte und ihn neu verhandeln wollte (was impliziert, dass Frkr. ihn nicht hätte ratifizieren dürfen); wenn derselbe Präsident (Hollande) aber nach der Wahl dann seinem Parlament die Ratifizierung des Fiskalpaktes empfiehlt, weil er sich einen Konflikt mit der deutschen Bundeskanzlerin nicht zutraut; …
dann braucht man sich nicht zu wundern, wenn nun zum zweiten Mal in Folge in Frankreich die Le-Pen-Liste bei der Europawahl stärkste einzelne Partei wurde, und in Italien nun die Lega.
Baer
6. Juni 2019 @ 09:24
@Nemschak,
schon mal etwas vom € gehört? Genau aus dem Grund kann weder auf-, noch abgewertet werden,also eine Anpassung an die Wirtschaftskraft vorgenommen werden.
So einfach ist es.
Die Wirtschaftspolitik in Italien war immer fehlgeleitet,konnte aber Währungsseitig korrigiert werden.
EU ,blöd gelaufen, oder doch nicht( Verschwörungstheorie).
Peter Nemschak
6. Juni 2019 @ 12:40
Wer am Euro teilnimmt, kommt um grundlegende gesellschaftliche Reformen nicht herum. Durch bequemes Abwerten ändert sich nichts an den Gewohnheiten und Mentalitäten einer Gesellschaft: Klientelismus, Korruption, eine negative Identifikation vieler Italiener mit ihrem Staat und politisches Versagen über Jahrzehnte wurden durch Abwertungen nur fortgeschrieben. Niemand hat Italien seinerzeit gezwungen an der Währungsunion teilzunehmen.
ebo
6. Juni 2019 @ 14:04
Sie haben offensichtlich etwas gegen Italien. Dabei hat Rom die EU mit gegründet, siehe Römische Verträge. Und ohne Italien wird der Euro sehr schnell zusammenbrechen. Das sollten Sie als Ex-Banker doch wissen. Die Märkte warten nur darauf, ein Land aus der Eurozone herauszubrechen…
Kleopatra
6. Juni 2019 @ 17:32
Wenn die Stimmung unter den Vertragspartnern seit Jahren so ist (und Herr Nemschak ist sicher repräsentativ), dann muss man sich die Frage stellen, ob es nicht Zeit zur Auflösung der Währungsunion ist. „Niemand hat Euch gezwungen“ ist ja nur einen Schritt vor „Niemand wird Euch halten“, dh. „Geht doch!“.
Das Prinzip, dass alle Eurostataten sich einer mehr oder weniger demütigenden Kontrolle ihrer Wirtschaftspolitik durch die Kommission unterwerfen, kaschiert nebenbei nur unvollkomen, in wessen Interesse und auf wessen Anordnung dies geschieht.
Nebenbei: In dem verlinkten Artikel im Standard wird auch darauf hingewiesen, dass Italien seit Jahrzehnten praktisch nie ein Defizit, dafür aber aus den 70er-80er Jahren überkommene Schulden hat. (Kernsatz: „Seit den frühen 1990er-Jahren hat Italien mit einer Ausnahme laufend weniger Geld ausgegeben als eingenommen, sieht man einmal von Zinszahlungen ab.“). Gleichzeitig ist die italienische Wirtschaft gegenüber 200 sogar geschrumpft. Wenn ein Schuldner trotz Anstrengungen jahrzehntelang nicht und nicht aus seinen Schulden herauskommt, ist es das normale Verfahren, dass man den größeren Teil der Schulden streicht. Und dafür ist es im Fall Italiens höchste Zeit.
Peter Nemschak
5. Juni 2019 @ 22:45
Was heißt die Rezepte aus Brüssel? Eine fehlgeleitete Wirtschaftspolitik seit den 1980-iger Jahren. Italien muss sich selber aus dem Sumpf ziehen. Mit sozialen Handouts, welche die anderen Mitgliedsländer finanzieren sollen, lassen sich die Probleme des Landes nicht lösen.
https://derstandard.at/2000104417821/Wachstum-Schulden-Arbeitslose-Wo-Italiens-Schwachstellen-liegen