“Souverän ist, wer…”

Die Flüchtlingskrise spitzt sich weiter zu. Während Deutschland über neue Grenzzäune streitet, hat in Frankreich eine Debatte über die (angeblich verlorene) staatliche Souveränität eingesetzt. Doch wer ist in der EU eigentlich noch souverän?

Von Moritz Rudolph

In Ungarn bauen sie wieder Mauern, Osteuropäer wollen sich von Brüssel partout keine Flüchtlingsquoten aufdrücken lassen und London scheint fertig mit der EU. Allerorten grassiert der nationale Souveränismus, der sich gemütlich daheim eingerichtet hat und auch gar nicht mehr raus will.

Seltsam fremd klingt uns heute Joschka Fischers Humboldt-Rede in den Ohren, in der er die „Vereinigten Staaten von Europa“ beschwor; sie liegt noch gar nicht lange zurück, gerade einmal 15 Jahre, wirkt aber bereits wie eine Botschaft aus einer anderen Zeit, die uns heute unverständlich geworden ist.

Dagegen stemmten sich in der vergangenen Woche Bundeskanzlerin Merkel und vor allem Frankreichs Präsident Hollande. Vor dem Europäischen Parlament hielten die beiden, auf die es ankommt in der EU, eine  Rede zur Lage der Union und, weil das mittlerweile gar nicht mehr anders geht, auch gleich eine zur Lage der Nation/en. Überall hat der Nationalismus Zulauf, Hollandes Zielscheiben dürften aber vor allem Le Pen und Orban gewesen sein.

Der Nationalismus ist hässlich, keine Frage, aber trickreich ist er auch und kleidet sich darum im Gewand der Vernunft und appelliert nicht bloß an ein diffuses nationales Gefühl, sondern redet überdies weihevoll von „Souveränität“, die es wiederzuerlangen gelte, natürlich auf nationaler Ebene.

„Le souverainisme c’est le declinisme“

Hollande hält davon gar nichts: „Le souverainisme c’est le declinisme“, rief er ins Plenum, dieser bleibe einer  „ordre ancien du XXe siècle“ verhaftet. Guy Verhofstadt sekundierte leidenschaftlich: Wenn der Euro verschwindet und Grenzen wiedererrichtet werden „dann hätten wir einen losen Verbund von Nationalstaaten, wirtschaftlich schwach, auf der Weltbühne bedeutungslos.” Man werde zum geopolitischen Spielball von Russland, China und den USA herabsinken.

Gegen dieses gar nicht unwahrscheinlich Szenario setzte Hollande, durchaus in Fischer-Manier, seine Vision von einer „nouvelle unification“ Europas und stellte dabei nicht weniger als die Existenzfrage. Die Wahl habe man nämlich nicht zwischen mehr oder weniger Europa, sondern zwischen  „l’affirmation de l’Europe et la fin de l’Europe“. Für ihn ist klar: Die Totengräber der europäischen Sache, das sind die als Souveränisten getarnten Nationalisten.

Hollande reiht sich damit ein in eine beachtliche Riege französischer EU-phoriker, die dem Nationalismus am liebsten den Garaus machen woll(t)en: Jacques Delors warnte vorm „Bazillus des Nationalismus“, den er vor einigen Jahren in Osteuropa umgehen sah. François Mitterrand brachte die Bedrohungslage einst auf die ebenso schlichte wie bedrohliche Formel: „Nationalismus heißt Krieg“. Bernard-Henri Lévy, Hausphilosoph der französischen Präsidenten, ging noch einen Schritt weiter und stellte uns vor die Alternative: „Union oder Tod“. Tertium non datur.

Hinter dem ganzen martialischen Gepolter steckt ein Gerangel um die richtige Ebene der Souveränität; auch Hollande ist Souveränist, nur eben einer, der Souveränität auf die europäische Ebene verlagern will. Kann das gelingen? Ist überhaupt irgendjemand souverän in dieser Welt?

(Fortsetzung hier) Foto: ebo