Demokratie als GAU
Kurz vor dem schottischen Referendum liegen die Nerven blank. Medien und Märkte entwerfen Untergangs-Szenarien, Kommission und Parlament drohen mit Ausgrenzung. Ist Demokratie wirklich so schlimm?
Es ist schon paradox: Die Schotten sind wohl die letzten überzeugten Europäer. Mit dem EU- und Eurobashing auf der Insel ihrer Majestät wollen sie nichts zu tun haben.
Doch ausgerechnet von der EU, noch dazu aus dem Europaparlament, kommen die härtesten Salven gegen eine schottische Unabhängigkeit.
Kommissionschef Barroso hatte sich ja schon vor Monaten auf die Seite seines Buddy Cameron geschlagen. Unabhängigkeit bedeute EU-Austritt, teilte er sinngemäß mit.
Was sollen die Drohungen?
Doch nun legen auch noch die Sozialisten im Europaparlament nach. Es werde Jahre dauern, bis Schottland wieder in die EU kommen könne, warnte ihr Fraktionschef Pittella, ein Italiener.
Was soll das? Natürlich kann man nachvollziehen, dass weder Brüssel noch die nationalen Hauptstädte Interesse an einer zersplitterten EU haben. Auch die Angst vor Nachahmern ist verständlich.
Doch dass eine Region wie Schottland, die seit Jahrzehnten alle EU-Verträge anwendet und noch dazu besonders EU-begeistert ist, wie ein Außenseiter behandelt werden soll, ist absurd und unwürdig.
“Verhandlungen von innen”
Man muss den Schotten ja nicht gleich “Verhandlungen von innen” anbieten, wie die Separatisten fordern. Man muss aber auch nicht gleich die Tür zuschlagen und eine Wagenburg bilden.
Es ist eine neue Lage, das haben die EU-Verträge nicht vorgesehen, das ist die eine Seite. Es ist Demokratie, die Schotten wollen nicht länger aus London regiert werden, das ist die andere.
Es muss doch wohl einen Weg geben, beide zu vereinbaren. Tschechien und die Slowakei durften sich doch auch trennen, das Kosovo sogar gewaltsam abspalten – mit Brüsseler Segen.
Oder ist Demokratie, wenn sie nicht den Regeln von Westminster und Lissabon folgt, immer gleich der größte anzunehmende Unfall – so wie bei den EU-Referenden in Frankreich, Holland, Irland…?
Siehe auch “Der Schotten-Schock” und “Brits raus, Scots rein”
Johannes
18. September 2014 @ 21:38
Dieses Blog lehnt doch durch die Schuldenübernahme durch den Euro echte Demokratie auch ab.
Deutschland hat sich fit gespart für den Euro und wir bestraft. Frankreich und Italien wollen nicht sparen und erpressen Deutschland, die EZB zahlt und CDU, SPD und Grüne klatschen heimlich Applaus zu der neuen Bankenrettung.
Demokratie wollt ihr doch gar nicht.
Ja, ihr schreibt immer davon, aber in der Realität lehnt ihr diese ab. Beispiel? Okay, Euro-Bonds. Aber gut, anderen die eigenen Schulden aufzwingen, gegen den Willen, das ist Freiheit für euch? Nein, aber dennoch wollt ihr die Euro-Bonds! Am Ende lehnt auch ihr die Demokratie ab.
Außerdem, wer braucht schon Demokratie wenn er den Euro hat *haha
ebo
18. September 2014 @ 22:18
Jetzt kommen erstmal die Deutschland-Bonds. BaWü darf für Berlin geradestehen. Na und? Das Ende der Demokratie ist das gewiss nicht!
Peter Nemschak
18. September 2014 @ 18:50
Schottland war schon im späten 18.Jhdt. eine Wiege liberaler Philosophen/Ökonomen. Selbst verständlich braucht auch eine Marktwirtschaft Rahmenbedingungen, um zu funktionieren und ist trotzdem nicht perfekt. Der homo oeconomicus ist eine Sagengestalt. Jede Ideologie zum Extrem getrieben, muss scheitern. In der Realität leben wir in einer Mischform. An staatlicher Bürokratie mangelt es wirklich nicht. Das ist ja auch ein wesentlicher Kritikpunkt an der EU. Ob sich ein um Schottland amputiertes Großbritannien zur EU orientieren würde, ist keineswegs sicher. Eine Hinwendung zu den USA wäre nicht unplausibel, nicht nur wegen der gemeinsamen Sprache.
Peter Nemschak
18. September 2014 @ 10:07
Ich halte eine Rückkehr in die goldenen 60-iger Jahre für eine Illusion. So viel Sozialstaat wie in Europa gibt es nirgendwo auf der Welt. Damit wir ihn uns weiterhin leisten können, gehört er auf die wirklich Bedürftigten fokussiert. Der Rest muss sich im Wettbewerb durchsetzen. Chanchengerechtigkeit zu verbessern halte ich für realistisch, Ergebnisgleichheit für illusionistisch. Was haben Sie gegen das deutsche Modell? Es soll niemandem aufgezwungen werden, was aber in der Logik der gemeinsamen Währung liegt. Daher gebe ich dem Euro wenig Chancen. Ein starkes liberales England wäre ein gutes Gegengewicht zum etatistisch geprägten Frankreich. Ob ein Abgang von Cameron oder eine Abspaltung der Schotten die Engländer europafreundlicher machen würde? Ein friedlich verlaufender Separatismus im Westen hätte vielleicht Vorbildwirkung für den nationalistischen Osten. Auch eine Illusion?
ohartz
18. September 2014 @ 12:12
Ich halte eine Rückkehr in die goldenen 60-iger Jahre für eine Illusion. So viel Sozialstaat wie in Europa gibt es nirgendwo auf der Welt.
Beeindruckende Argumentation. Nur weil wir besser sind als die anderen, sollen wir uns verschlechtern? Ich verstehe die Logik nicht.
Ich weiß, ihnen geht es um die Kosten. Experten wie sie verstehen allerdings nicht, dass ein funktionierender Sozialstaat erhebliche Kosten bei Polizei, Justiz, .. einspart und durch die Stabilisierung der Nachfragemärkte für Wachstum sorgt. Der Abbau des Sozialstaats hat nicht zu einer Verringerung der Schuldenlast geführt. Ein vernunftbegabter Mensch würde sich in diesem Fall die Frage stellen, ob der Sozialstaat überhaupt für die enormen Staatsschulden verantwortlich ist, ein ordo-/neoliberaler Dogmatiker ignoriert solche Kontrapunkte und schwafelt von Illusionen. Schade, dass sich eine solche Unvernunft derart verbreiten konnte.
Peter Nemschak
18. September 2014 @ 14:06
Die Welt von gestern existiert nicht mehr für Europa. Wir hatten, einmalig in der Geschichte, eine Monopolrente, die spätestens seit dem Ende des Realen Sozialismus weggebrochen ist. Die meisten von uns könnten sich heute kein Mobiltelefon leisten, das zu europäischen Bedingungen entwickelt und hergestellt wurde. Ein einfaches Polohemd würde ein Mehrfaches kosten. Faktum ist, dass die Einkommensverteilung zwischen den Nationen auf dieser Welt gleicher, innerhalb der Nationen – unabhängig vom jeweiligen politischen Regime – ungleicher geworden ist. In Zukunft werden wir auch für unsere Sicherheit mehr ausgeben müssen, da die Unterstützung der USA im Vergleich zur Periode des Kalten Kriegs brüchiger geworden ist. Was hat meine Argumentation mit neoliberaler Dogmatik zu tun? Der technische Fortschritt und der globale Wettbewerb, den er ermöglicht hat, sind nicht zu leugnende Fakten. Arbeitsplätze wurden durch moderne Technologien ersetzt oder in Entwicklungsländer verschoben. Diese Entwicklung hat Gewinner und Verlierer hervorgebracht. Letztere befinden sich, nicht wie bisher gewohnt, nur in der Dritten Welt sondern auch in Europa.
ohartz
18. September 2014 @ 16:21
Es ist ein beruhigendes Gefühl, ein geschlossenes, alternativloses Weltbild zu haben. Für mich ist die Ökonomie gerade alles andere als das.
Zum Thema: Erstaunt es sie nicht, dass ihr gelobtes Leuchtfeuer des Liberalismus die schottische Separationsbewegung befeuert? Weshalb fühlen sich die Kiltträger nicht als Auserwählte, die in Europas Paradies leben dürfen? Der Liberalismus scheint etwas Abstoßendes zu besitzen, meinen sie nicht auch?
Lalla
18. September 2014 @ 09:37
Die Finanzelite wird Schottland niemals aus der EU entlassen, dann bricht ihr undemokratisches Kartenhaus endgültig zusammen. Zur Not wird dann eben die Conchita-Wurst-Methode angewandt, die ja gerade ein Ständchen in Brüssel trällern durfte für die vorgegebene Weltanschauung, die alle gefälligst gut zu finden haben.
Weiterlesen: http://german.ruvr.ru/news/2014_09_18/Schottland-fuhrt-Referendum-uber-Unabhangigkeit-durch-8967/
Peter Nemschak
18. September 2014 @ 08:50
…als ob wir nicht schon genug ungelöste Probleme hätten, dürfte in Wahrheit bei vielen Politikern und Bürokraten mitschwingen. Ein geschwächtes UK ist sicher auch für die NATO kein Vorteil. Aber: Demokratien sind anpassungsfähig, anders als autokratische Regimes.
ebo
18. September 2014 @ 09:13
Soso, EU-freundliche Schotten sind nun also ein Problem für die EU, EU-feindliche Briten hingegen dürfen weiter mitmachen und mit Barroso und Merkel Allianzen schmieden? Und das ist dann natürlich kein Problem? Merkwürdige Logik…
Peter Nemschak
18. September 2014 @ 09:25
Was Merkel nützt oder schadet, darf kein Maßstab sein. Die Motive für EU-Freundlichkeit der Schotten sollten auch einmal hinterfragt werden. Die Beurteilung hängt davon ab, welches Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell man sich für Europa wünscht.
ebo
18. September 2014 @ 09:38
Denken Sie doch einmal dialektisch. Wenn die Schotten UK Goodbye sagen, haben wir eine EU-feindliche Mehrheit in UK. Dann wir ein Ruck durch England gehen – danach ist vieles möglich. Im übrigen wünschen sich die Schotten ein sozialeres, gerechteres EUropa. Das scheinen viele zu fürchten – Sie auch? Dann lesen Sie mal das: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/referendum-die-schotten-spinnen-absolut-nicht-13158938.html
Tim
18. September 2014 @ 09:36
@ ebo
Nota bene: Die Briten sind keinesfalls EU-feindlich, sondern EU-Zentralismus-feindlich. Das ist ein wichtiger Unterschied, der in Europa oft unterschlagen wird, weil man ja gern das Feindbild des spinnerten Inselidioten hat.
ebo
18. September 2014 @ 09:52
Was denn für ein EU-Zentralismus? Ist Deutschland kein Föderalstaat mehr?
Tim
18. September 2014 @ 10:12
@ ebo
Naja, es gäbe halt zwei Modelle, die EU zu organisieren: die klassische, subsidiäre (Zielvorstellung “Europa der Regionen”) und die heutige, zentralistische (Zielvorstellung “USEU”). Die erste hat leider stark ein Einfluß verloren, darum haben die EU-Gegner in UK so stark an Einfluß gewonnen.
Übrigens ist gar nicht gesagt, daß UK nach einer schottischen Unabhängigkeit EU-feindlicher wird. Es kann durchaus eine Gegenbewegung geben, weil sich die Restbriten dann wirklich allein fühlen. Time will tell.
Ich wünsche mir jedenfalls nach wie vor eine schottische Unabhängigkeit und einen britischen EU-Austritt.
Michael
18. September 2014 @ 00:00
Bei nüchterner Betrachtung kann niemand in der EU ein Interesse daran haben, dass Schottland nicht dazugehört. Man braucht sich nur die riesigen schottischen Territorialgewässer anzuschauen – da würden viele Fischer arbeitslos … Und die schottischen Bodenschätze sind in den nächsten Jahren ein dringend gebrauchter Ersatz für das Öl von Gazprom-Neft. Ich glaube auch, der italienische Chefsozialist meint gar nicht die Schotten, sondern seine eigenen norditalienischen Landsleute.
Merke: L’existence d’une nation est … un plébiscite de tous les jours (Ernest Renan). Daran sollten sich gerade diejenigen gewöhnen, die ihre eigene Legitimität von der Volkswahl ableiten.