Die Rechtsstaats-Debatte, die keiner führt
Nach dem Veto von Ungarn und Polen gegen das EU-Budget und den Corona-Hilfsfonds ist die Rechtsstaats-Debatte voll entbrannt. Einige Leser weisen darauf hin, dass nicht nur diese beiden Länder gegen die rechtsstaatlichen Prinzipien verstoßen.
Das ist (leider) völlig richtig. So kämpfen Bulgarien und Rumänien seit Jahren gegen Korruption und Organisiertes Verbrechen – ohne durchschlagenden Erfolg. Selbst die Unterstützung durch die EU-Kommission hat daran wenig geändert.
Dann wären da noch Malta und die Slowakei, wo Journalisten wegen kritischer Berichte ermordet wurden. Vieles deutet darauf hin, dass es dort mafiöse Strukturen gibt, die bis in die Regierung reichen. Doch die Aufklärung zieht sich hin.
Außerdem haben wir einige Länder, die Minderheiten diskriminieren oder Autonomiebewegungen unterdrücken. Dazu zählen die baltischen Staaten, aber auch Spanien – wo die Justiz mit aller Härte gegen die Separatisten aus Katalonien vorgeht.
Last but not least werden in vielen Ländern zunehmend die Freiheitsrechte eingeschränkt. Die jüngste Meldung kommt aus Frankreich, wo man nicht mehr frei über die Polizei und ihre zahlreichen Übergriffe berichten darf (ein aktueller Bericht steht hier).
Die EU versucht zwar neuerdings, mit einem EU-weiten Rechtsstaats-Dialog gegenzusteuern, der alle Mitglieder einbezieht. Doch der dazu veröffentlichte Bericht der EU-Kommisison weist viele blinde Flecken auf, wie wir in diesem Blog bereits notiert haben.
Zudem muß die Frage erlaubt sein, ob Rechtsstaats-Verstöße mit EU-Mittelkürzungen beantwortet werden sollen. Auch dazu hatten wir in diesem Blog schon einen Beitrag: “Warum die Rechtsstaats-Debatte verlogen ist”.
Klar ist, dass Ungarn und Polen nicht die einzigen “Sünder” sind. Auch andere EU-Länder stellen die Solidarität infrage, wenn es ihnen in den Kram passt. Doch darüber spricht man in Brüssel und Berlin nicht so gern.
Vor allem Kanzlerin Merkel möchte diese Debatte nicht führen. Sie kehrt den Konflikt unter den Teppich – und hofft auf diskrete Einigung hinter verschlossenen Türen…
Siehe auch “Diese sieben EU-Länder erschüttern die EU” und “Jenseits von Demokratie und Rechtsstaat”
European
23. November 2020 @ 12:52
Ich verweise nochmal auf Wolfgang Münchau von Eurointelligence. Er hat in seinem heutigen Blogpost auf den möglichen Mechanismus einer Koalition der Willigen – ich weiß, der Begriff stammt von George W. Bush 😉 – hingewiesen und auch, wie man Polen und Ungarn damit aus diesem Prozess ausklammern könnte. Der Recovery Fund muss vom EU Budget entkoppelt werden.
Oder aber man führt endlich eine wirksame wealth tax oder Finanztransactionssteuer ein und stoppt die Steuerparadiese. Macht Rutte nicht glücklich, ist aber für die Eurozone notwendig. (My2cents)
Sehr lesenswerter Beitrag. Überhaupt ein weiterer guter Blog.
https://www.eurointelligence.com/column/enhanced-cooperation
“The basic rule is that it takes at least nine countries to trigger it. The European Commission and Council have the right to refuse admission. That would be a critical point in this case. Putting the recovery fund into an enhanced co-operation procedure would only work if the rest of the EU manages to keep Poland and Hungary outside.”
Kleopatra
23. November 2020 @ 07:42
Man sollte sich auch an die Affären Pugdemont und Comín erinnern, bei denen es um nichts weniger geht, als dass ein Mitgliedstaat gewählte MdEPs einknasten will und deshalb ihre Immunität missachtet. Hierzu gibt es ein Urteil des EuGH; aber das Parlament will offenbar mehrheitlich keinen eindeutigen Standpunkt einnehmen, da man es sich andernfalls mit Franktionsgenossen aus einem großen Mitgliedsland verderben würde. Und die Grünen wollten die beiden anscheinend nicht als Mitglieder (sie werden als “non inscrits” geführt), obwohl sie sich an einer Mitgliedschaft interessiert gezeigt hatten. Was soll man von einem Parlament halten, das die illegitimen Tricks der spanischen Justiz (vgl. die immer wieder hervorgeholten und wieder zurückgezogegen Europäischen Haftbefehle) nicht als dreisten Angriff auf sich insgesamt zurckweist? Und ist dieser Missbrauch des Europäischen Haftbefehls nicht eine Missachtung des Rechtsstaatsprinzips auf EU-Ebene?
ebo
23. November 2020 @ 08:40
Gute Frage.
El Zorro
23. November 2020 @ 12:52
… das EU-Parlament ist nicht vom Volk gewählt. Insoweit hat es weder Anspruch auf Rechtsstaatlichkeit, noch kann es dafür belangt werden.
ebo
23. November 2020 @ 13:11
Ach ja? Von wem ist es denn gewählt?
Sie verwechseln das EP wohl mit der EU-Kommission…
El Zorro
23. November 2020 @ 14:26
Stichwort: Verhältniswahlrecht. Anders als bei der Bundestagswahl hat der Wähler nur eine Stimme, mit der er eine P a r t e i oder Sonstige Politische V e r e i n i g u n g wählen kann. Demnach ist das EU-Parlament nicht direkt gewählt, sondern über Proporz.
Kleopatra
24. November 2020 @ 15:26
Ich meine im Gedächtnis zu haben, dass M. Weber-Spitzenkandidat bereits in einem Interview erklärt hat, die Immunität werde wahrscheinlich aufgehoben, als der Antrag noch nicht beim Parlament eingegangen, geschweige denn behandelt war (das Verfahren läuft noch). Aber die großen Fraktionen wollen es sich anscheinend mit ihren spanischen Fraktionskollegen nicht verderben.
Ute Plass
22. November 2020 @ 12:59
Portugiesisches Berufungsgericht hält PCR-Tests für unzuverlässig und hebt Quarantäne auf https://www.corodok.de/portugiesisches-berufungsgericht-pcr/ –
@ebo: Sollte das stimmen, denken Sie das dies Auswirkungen auch auf Deutschland und andere europäische Länder haben könnte?
Bertil Fuchs (alias El Zorro)
23. November 2020 @ 12:59
… it´s great. Isn´t it!
El Zorro
22. November 2020 @ 09:35
… sie vergaßen Deutschland zu erwähnen, wo seit 2015 die Verfassung immer wieder ausgehebelt wird.
ebo
22. November 2020 @ 10:04
Tja, Deutschland ist ein Thema für sich. Vor allem seit letzter Woche und dem Infektionsschutzgesetz. Andererseits haben Gerichte schon viele Maßnahmen einkassiert, was für einen funktionierenden Rechtsstaat spricht.