Die Selbstkastrierung der europäischen Außenpolitik
Trotz der Invasion in Syrien und der Drohungen gegen Deutschland und die EU soll die Türkei ein „strategischer Partner“ der Union bleiben. Neue Sanktionen sind auch nicht geplant.
Dies sagte ein hochrangiger EU-Vertreter am Rande des EU-Gipfels in Brüssel. Sogar die Frage nach einem Waffenembargo spielte er herunter. Das sei eine rein nationale Entscheidung; die EU habe nichts zu melden.
Damit geht die Verzwergung und Selbstkastrierung der europäischen Außenpolitik weiter. Während die USA bereits Sanktionen gegen die Türkei verhängt haben, setzen die EUropäer ihr gescheitertes Appeasement fort.
Dies ist doppelt unverständlich. Denn die Türkei verstößt nicht nur eklatant und bewußt gegen die EU-Strategie im Nahen Osten, die auf eine politische Lösung für Syrien setzt. Sie setzt auch ihre illegalen Bohrungen vor Zypern fort.
Doch nicht einmal dagegen gibt es bisher EU-Sanktionen. Die Außenminister haben lediglich den Auftrag vergeben, Strafmaßnahmen vorzubereiten. Sie schieben die seit Wochen überfällige Reaktion auf die lange Bank.
Das verständnisvolle Verhalten gegenüber der Türkei steht in scharfem Kontrast zum harten und entschiedenen Vorgehen gegen Russland. Diese europäische Macht war auch schon mal „strategischer Partner“ der EU.
Doch nach der Übernahme der Krim und dem Krieg in der Ostukraine wurde Russland dieser Status entzogen. Zudem hat die EU Sanktionen verhängt, die mittlerweile fast automatisch verlängert werden…
Wenn man dann noch bedenkt, dass Russlands Zar Putin und der türkische Sultan Erdogan in Syrien eng zusammenarbeiten und offenbar beabsichtigen, das Land nach ihrem Gusto neu zu „ordnen“, kann einem eigentlich nur noch schwindelig werden.
Die EU mißt nicht nur mit zweierlei Maß – sie hat offenbar jedes Maß in der Außenpolitik verloren. Was die EU-Granden nicht daran hindert, von Geopolitik zu reden – für den Westbalkan…
Siehe auch „Berlin und Paris streiten um Geopolitik, kind of“ sowie „Putin strafen, Erdogan schmieren“
P.S. Immerhin einer fand deutlich Worte: Der EU-Beitrittsprozess mit der Türkei müsse beendet werden, sagte Parlamentspräsident Sassoli beim EU-Gipfel in Brüssel. Wer sich so aufführe, könne kein Kandidat mehr sein…
Barbara Dedie
21. Oktober 2019 @ 13:05
Ich erwarte von der EU nichts anderes mehr und auch nichts wirklich Gutes. Eher das Gegenteil, also konkret: falls es Erdogan gelingt,die Kurden zu vervespern, könnte er sich sehr wohl als nächstes über Griechenland hermachen, das ja nach neuesten Landkarten bereits türkischrot eingefärbt ist und zu dem gehört, was angeblich der Türkei ‚rechtmäßig zusteht‘. Dann könnte es zwischen den Bündnispartner in der NATO so richtig losgehen. Hch kann mir vorstellen, dass die EU stillhält und sich womöglich klammheimlich die Hände reibt, dass es die lästigen Griechen mit den noch lästigeren Flüchtlingen los ist.
Und bitte mir nicht aufs Haupt schlagen…ich lebe in Sichtweite der türkischen Küste und weiß, wie es den Menschen hier geht. Wir haben schon die Flüchtlinge mehrfach in der Woche am Strand, eine türkische Invasion wäre das Letzte, was wir hier möchten.
Gottfried Lilge
20. Oktober 2019 @ 17:01
Es ist schon bezeichnend, dass die EU, besonders aber Deutschland nach der Einschätzung des Gutachtens des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages: „die Türkei handelt beim jüngsten „Einmarsch“ in Nordsyrien im Widerspruch zum Völkerrecht“, sich nicht eindeutig positioniert. Menschenrechte und die hochgehaltenen christlichen Werte scheinen den Politikern nur dann wert, eingefordert zu werden, wenn das entsprechende Land a) nicht der NATO angehört und b) den Wirtschaftsinteressen der westlichen Mächte nicht entgegensteht (Waffenexporte, lukrative Handelsbeziehungen etc.).
ebo
20. Oktober 2019 @ 17:13
Zustimmung. Immerhin hat das Europaparlament gefordert, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sofort zu beenden. Aber auch das war kein Thema beim EU-Gipfel.
Peter Nemschak
18. Oktober 2019 @ 11:23
Für jemanden, der keine Ressentiments gegenüber der Türkei hat, macht die Strategie der EU durchaus Sinn. Sowohl die zu Isolationismus neigende USA, die Türkei und Russland werden langfristig innerhalb des wirtschaftlichen und geopolitischen Interessenhorizonts der EU sein. Die einen als NATO-Partner, Russland als Nachbar und strategischer Herausforderer der EU. Die Frage eines unabhängigen Kurdenstaates oder einer autonomen kurdischen Region ist für die EU ohne politisches Interesse. Mangels politischem und militärischem Engagement im Nahen Osten hat die EU zu wenig Gewicht, um bei der Gestaltung einer zukünftigen Friedensordnung in der Region eine nennenswerte Rolle zu spielen. Bleiben wir auf dem Boden der Realität. Es besteht kein Grund, dass einem dabei schwindlig wird.
Peter Nemschak
17. Oktober 2019 @ 19:44
Die EU hat schlussendlich erkannt, das sie mangels politischem und militärischem Einsatz in der Vergangenheit bei einer politischen Lösung des Syrienkonflikts nichts zu melden hat. Die Außenpolitik der EU mag nicht kohärent und konsistent sein, sie ist aber pragmatisch und unter den gegeben Umständen die sinnvollste Lösung. Moralpolitik, wie sie manchen Intellektuellen vorschwebt, ist illusorisch und nicht zielführend.