„Souverän ist, wer…“ (II)

Die Flüchtlingskrise spitzt sich weiter zu. Während Deutschland über neue Grenzzäune streitet, hat in Frankreich eine Debatte über die (angeblich verlorene) staatliche Souveränität eingesetzt. Doch wer ist in der EU eigentlich noch souverän? (Teil 2 einer dreiteiligen Serie, Teil 1 steht hier)

Vordenker der EU-Souveränisten ist Jürgen Habermas: In der „postnationalen Konstellation“ sind die für eine gesellschaftliche Ordnung entscheidenden Ströme von Kapital, Waren, Menschen und Informationen längst über den Nationalstaat hinausgewachsen. Und mit ihm das politische und ökonomische Aktionsfeld – eine Tendenz, die im Prozess der Entfaltung der Produktivkräfte angelegt ist und sich seit dem Ende des Kalten Krieges beschleunigt hat.

Wer da Handlungsfähigkeit und Demokratie bewahren oder wiederherstellen will, muss eine Ebene höher gehen und den Nationalstaat hinter sich lassen.

So unterschiedlich die philosophische Grundhaltung auch sein mag, erinnert das doch an Carl Schmitts Konzept vom „Großraum“. Schmitt stellte nach dem Zweiten Weltkrieg lakonisch fest. „Die Epoche der Staatlichkeit geht jetzt zu Ende. Darüber ist kein Wort mehr zu verlieren“. Stattdessen werden es fortan Großräume sein, die das Geschick der Welt bestimmen.

Ob auch die Europäische Union zu ihnen gehören wird, steht derzeit auf Messers Schneide –  darum auch der (diskursiv) mit harten Bandagen geführte Kampf gegen die Nationalsouveränisten, die der EU Knüppel zwischen die Beine werfen und sie mit aller Macht daran hindern wollen, auf der Weltbühne Fuß zu fassen.

Carl Schmitt ist zugleich auch der Kerndenker der Souveränität. Von ihm stammt die berühmte Formulierung: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand verfügt“. Das hat er 1922 geschrieben. Aber heute, wo die Welt ins Zeitalter von Globalisierung und „Geoökonomie“ (Edward Luttwak) eingetreten ist, ist da nicht auch der Ausnahmezustand erstens ökonomisch und zweitens permanent geworden? Wer ist denn da überhaupt noch souverän?

Dieser Frage geht Joseph Vogl in seiner luziden Studie über den „Souveränitätseffekt“ nach. Und er findet eine Antwort: „Souverän ist, wer eigene Risiken in Gefahren für andere zu verwandeln vermag und sich als Gläubiger letzter Instanz platziert“. Das ist viel weniger als noch bei Schmitt, wo der Souverän über den Ausnahmezustand „verfügen“ konnte. Nach Vogl ist hingegen souverän, wer sich am geschmeidigsten ins System fügt.

Was hier aufscheint, ist das Paradoxon einer größeren Autonomie durch skontrollierte Heteronomie. Müsste diese gezielte Unterwerfung größeren Einheiten nicht viel besser gelingen? In der Tat, so Vogl, „erscheint die Epoche der souveränen Territorial- und Nationalstaaten als flüchtige und vergangene welthistorische Episode“. Stattdessen etabliere sich eine „neue Souveränität“, die viel fluider sei als die alte.

Na, das ist doch der EU wie auf den Leib geschneidert. Ihr komplexes Mehrebenensystem, ihre eigenartige Form der Staatlichkeit, die den Rechtsgelehrten seit jeher Kopfzerbrechen bereitet hat, ihre schwer fassbare Ordnung, die eine Publikation unlängst als „postsouveräne Territorialität“ bezeichnete – all das müsste sie doch zur Avantgarde einer neues Form der Souveränität machen. Oder nicht?

(Fortsetzung folgt)