So enden Demokratien – nicht nur in Großbritannien
Nach dem Coup von Premier Johnson hagelt es Warnungen vor einem Ende der britischen Demokratie. Doch nicht nur in Großbritannien besteht Grund zur Sorge.
Die “Zeit” ist alarmiert. “So enden Demokratien” heißt ein Beitrag, der viel beachtet und kommentiert wurde. Es geht um Johnsons Machtwillen, den er gegen das Unterhaus durchsetzen will. “Die Folgen werden katastrophal sein”, warnt das liberale Blatt aus Hamburg.
Wesentlich gnädiger geht die “Zeit” – wie die meisten anderen Medien – mit dem Coup in Italien um. Auch dort hat ein Machtwechsel ohne Wahl stattgefunden, auch dort will die neue Regierung am Volk vorbei regieren. Premier Conte wechselt die Regierung wie andere das Hemd.
Immerhin stützt sich Conte noch auf eine Mehrheit im Parlament. Doch das “Königsrecht” der Abgeordneten hebelt er schon seit Monaten aus. Das italienische Staatsbudget wird auch unter der neuen Regierung mit der EU-Kommission in Brüssel ausgehandelt, und nicht in Rom.
Auch so enden Demokratien – genau wie in Griechenland, wo die EU erst der alten Linksregierung ihren Willen aufgezwungen hat, und wo nun die neue konservative Regierung mit extrem harten Sparauflagen auskommen muss, die selbst der IWF für surreal hält.
Und dann wäre da natürlich noch die EU selbst. Die Europawahl hat sie als “Fest der Demokratie” (Ratspräsident Tusk) zelebriert, um hinterher den Willen des neu gewählten Europaparlaments zu übergehen. Auch das war ein Coup – inszeniert von den Chefs der Union.
Fassen wir zusammen: In Großbritannien, Italien und in Griechenland wurden die Parlamente entmachtet. In London und in Rom gab es einen Machtwechsel ohne Wahlen, und in der EU gab es Wahlen ohne einen Machtwechsel. Und all das in wenigen Monaten.
So enden Demokratien – mitten in EUropa…
Die “Mutter aller Parlamente” auf dem Krankenbett
— Bernd 🇪🇺 Hüttemann (@huettemann) August 29, 2019
Aber leider Trend: Exekutiven suchen auch in anderen Staaten/EU Parlamentarismus zu schwächen – beim EP reden sie jüngst von “selber schuld”, irgendwann reden sie wieder von “Schwatzbuden”
#UKinEU #StopTheCoup #DefendDemocracy https://t.co/iYYBSrV4Nm
Siehe auch die Artikelserie zum Schwindel bei der Europawahl sowie “EU-Krise – jede zweite Regierung wackelt”
Peter Nemschak
4. September 2019 @ 18:46
@ebo Was heißt Lockerung, wohl hinsichtlich Verteilung ? Es geht darum, die jährliche Aufnahme von Flüchtlingen zu begrenzen. Die EU kann, will sie nicht den Sozialstaat ihrer Mitglieder zerstören, nicht alle aufnehmen, auch wenn legitime Fluchtgründe vorliegen. Es sind zu viele. Die Zeiten haben sich seit der Flüchtlingskonvention von 1951 verändert. Macht man so weiter wie bisher, darf man sich nicht wundern, wenn rechte und extrem rechte Parteien weiter an Zulauf gewinnen.
sKnaerzle
3. September 2019 @ 17:02
@Danke für die Präzisierung. Damit ist der Artikel weit weniger alarmistisch und gefällt mir besser.
sKnaerzle
3. September 2019 @ 16:16
Sorry, aber ich kann besser Französisch als Englisch, und “Coup” ergänze ich zu “Coup d’état” (Staatsstreich), also etwas, das Napoleon am 18. Brumaire gemacht hat und davon scheint mir das Thema Parlamentsferien sehr weit entfernt.
Was also ist mit “Coup” gemeint?
Außerdem geht es bei der Parlamentsvertagung meiner Meinung nach nicht um die große Frage der Demokratie, sondern um die viel kleinere (wenn auch ebenfalls sehr wichtige) Frage, ob sich Johnson an die Verfahrensregeln gehalten hat – und anscheinend tat er das.
Zum Schluss bin ich in diesem Fall der Meinung, dass das britische Parlament auch nicht weiß, was es will, sonst könnte es ja einen neuen Premierminister wählen und bezüglich des Brexit eine Entscheidung treffen.
ebo
3. September 2019 @ 16:42
@sKnaerzle No problem, aber “Coup” heißt im Französischen zu erst einmal “Schlag”. Und im Deutschen hat es viele Bedeutungen. Wenn ich Staatsstreich gemeint hätte, hätte ich es auch geschrieben. Johnsons Vorgehen ist ein Schlag gegen die Demokratie, wie auch sein Vorgehen gegen die “Rebellen” unter den Tories zeigt – er droht ihnen schlicht mit Nicht-Wiederaufstellung oder gar Parteiausschluss!
Bjoern Guenther
31. August 2019 @ 10:19
Hallo,
Ich bin teilweise entsetzt über die hier geführte Diskussion. Es gibt 3 Fakten, die hier offensichtlich nucht berücksichtigt werden.
1. Der Mehrheitswille der Briten war der Brexit (das ist dann Demokratie)
2. Die Queen hat das Brexit Gesetz unterzeichnet und damit ist es gültig. Es enthielt nur einen Passus: Das Vereinigte Königreich verlässt die Europäische Union am 29.03.2019 um 11.00h.
Es gab weder einen weiteren Verhandlungsspielraum noch irgrndwelche Paragraphen die eine Veränderung des Zeitolans vorgesehen haben. Punkt. Faktisch znd formal Juristisch hat das Vereinigte Königreich die EU am 29.03.2019 um 11:00 verlassen. Dieser Punkt ist nicht veränderbar gewesen. Ich kenne viele Juristen un UK, die sagen, das das Verhalten des Parlaments und deren Abgeordneten noch ein Verfassungsrechtliches Verfahren nach sich ziehen werde.
3. Nicht Johnson begeht einen Coup un dem er nun endluch den demokratischen Mehrheitswillen der Briten durchsetzen will (wie es auch seine Verpflichtung ist) sondern das Parlament und die Premierministerin haben den Coup gegen das eigene Volk begangen…
ebo
31. August 2019 @ 13:11
Erstmal willkommen im Forum! Was UK betrifft: Wir haben hier wiederholt darauf hingewiesen, dass es in UK eine Mehrheit für einen harten Brexit gibt. Doch Johnson kann sich nicht nur auf Umfragen stützen. Er muß auch auf die Institutionen Rücksicht nehmen. Nicht nur das Unterhaus, sondern auch die BoE u.a. warnen vor einem No Deal. Wir haben es hier mit einem Konflikt von Institutionen und Legitimationen zu tun, den Johnson handstreichartig löst – deshalb erscheint mir der Begriff Coup weiter angemessen!
Andreas Uhlig
30. August 2019 @ 13:46
Und vor kurzem:
“Ein Gericht in Schottland hat den Antrag abgewiesen, mit dem die Vertagung des britischen Parlaments durch die Regierung von Premierminister Boris Johnson mit einer einstweiligen Verfügung hätte verhindert werden sollen.”
Andreas Uhlig
30. August 2019 @ 13:31
Lieber Eric,
es gibt leider viel zu viel Aufregung über die “Zwangspause” der Londoner Parlaments, auch bei Ihnen. Die häufig zu hörende Ansicht, dass in London ein “Coup” stattgefunden habe oder, wie Sie schreiben, die Demokratie ende, lässt sich meines Erachtens nicht mit den Fakten übereinbringen. Das britische Parlament hat traditionell eine Sitzungspause während den Parteitagen (die im September stattfinden). Ebenso ist eine sitzungsfreie Zeit vor einer Regierungserklärung der Königen, die ja bevorsteht, üblich. Streiten kann man, wenn man unbedingt will, höchstens über die Länge der Pause und die Kombination der Pausen.
Rein juristisch scheint gegen die verkündete sitzungsfreie Zeit nichts einzuwenden zu sein. Das jedenfalls ist der rechtliche Rat, den die Regierung eingeholt hat.
Auf die Rechtmässigkeit von Johnsons Vorgehen weist auch Anthony Peters, ein Londoner Kommentator, hin, wenn er schreibt, “There is nothing unconstitutional about proroguing parliament. One dear friend pointed out the works of the constitutional lawyer A V Dicey, a Whig no less which is a Liberal Democrat in modern money, and his “The Law of Constitution” written in 1885 in which he states that ““The House can in accordance with the constitution be deprived of power [when] there is fair reason to suppose that the opinion of the House is not the opinion of the electors”.”
Und er fügt hinzu, dass die ganze Aufregung weniger auf konstitutionelle Befürchtungen zurückgeht, sondern auf die Ablehnung von Johnson, der, jedenfalls bis jetzt, kein Zauderer wie Theresa May ist.
Ich möchte auch noch auf die Bemerkungen von Peters über die auf höchste Kontroverse ausgerichtete Verhandlungstaktik und -moral der EU-Seite hinweisen (die ja auch dokumentarisch festgehalten ist): “Neither Brexiteers no(r) Remainers should forget that the chief EU negotiators made it abundantly and quite unequivocally clear that it was their wish to deliver a Withdrawal Agreement which would be so onerous that it would force the UK to change its mind and to give up on its progress to departure. In other words it was their avowed and clearly articulated intention not to respect the result of the referendum, not to create a bilaterally satisfactory result but to cause as much discord and confusion in the United Kingdom as they could. That they have done with huge success.”
Wenn es Merkel, Makron und der EU wirklich ernst damit ist, einen vertragslosen Brexit zu verhindern, dann sollten sie möglichst rasch den vom Londoner Parlament bereits mehrfach abgelehnten Austrittsvertrag wieder öffnen und die umstrittensten und zum Teil politisch und staatsrechtlich schlicht von keiner Regierung akzeptierbaren Teile revidieren – und zwar zum ersten Mal mit dem an und für sich selbstverständlichen Ziel, eine Schadenminimierung für alle Beteiligte zu erreichen. Man sollte nicht vergessen, dass unter einer vertragslosen Beziehung nicht nur Grossbritannien, sondern auch und womöglich sogar noch mehr Deutschland, Frankreich, die Niederlande und andere EU-Länder mit bisher engen Handelsbeziehungen leiden werden.
Freundliche Grüsse
Andreas
ebo
30. August 2019 @ 14:53
Lieber Andreas, natürlich war Johnsons Vorgehen ein Coup, und das Demokratie-Problem scheint mir auch offensichtlich. Allerdings hast Du Recht, dass eine Sitzungspause nichts Ungewöhnliches ist. Allerdings ist das Timing doch allzu durchsichtig-restriktiv. In meinen Beiträgen habe ich aber auch darauf hingewiesen, dass die EU eine Mitschuld an der verfahrenen Lage trägt. Bisher war es immer die Stärke der Europapolitik, einen Kompromiss zu suchen – beim Brexit hingegen geht auch Brüssel mit der Brechstange vor. Insofern gebe ich Dir recht, auch die EU muss sich bewegen.
Stefan Gran
30. August 2019 @ 09:21
Lieber Eric,
ich stimme dir in weiten Teilen zu. Die Entwicklungen in Europa sind besorgniserregend. Und die EU spielt da mit ihrer Haushaltsüberwachung eine wirklich unrühmiche Rolle. Und selbst auf der Ebene der EU spielt das Parlament bei diesem Verfahren übrigens keine Rolle. Aber ich muss dich bei Italien korregieren. Es ist ein normaler demokratischer Prozess, dass Regierungen auch ohne Wahlen wechseln können, sofern sie sich auf eine Mehrheit im Parlament stützen können. Es werden ja Abgeordnete und Parteien gewählt und nicht Regierungskoalitionen!
ebo
30. August 2019 @ 09:32
Stimmt, in Italien wurde das parlamentarische Prozedere eingehalten. Dennoch hat die neue Regierung keine echte Mehrheit, wie die Umfragen zeigen. Vor allem die Fünf Sterne haben ein massives Problem; eine parteiinterne Abstimmung könnte die neue Koalition gleich wieder sprengen…
Peter Nemschak
30. August 2019 @ 12:32
Gemessen an Meinungsumfragen schwanken parlamentarische Mehrheitsverhältnisse während einer Legislaturperiode nicht nur in Italien sehr stark. Das ist der Vorteil der repräsentativen gegenüber der direkten Demokratie.
Peter Nemschak
30. August 2019 @ 08:19
Der Unterschied zwischen Großbritannien, Italien und Griechenland besteht darin, dass das UK nicht Mitglied einer gemeinsamen Währungszone und ihrer Disziplin unterworfen ist. Am angeblich von Brüssel aufgezwungenen Budget kann es beim UK nicht liegen. Klar, der Euro gehört reformiert, aber nicht notwendigerweise in Richtung Transferunion. Das UK ist gesellschaftlich so stark gespalten wie die USA. Das haben die beiden Länder gemeinsam, und das hat nichts mit der EU sondern eher mit den sozialen und vor allem kulturellen Nebenwirkungen der Globalisierung zu tun: somewheres vs. anywheres.
Norbert Freund
4. September 2019 @ 10:37
Sehr geehrter Herr Bonse, gibt es denn tatsächlich Indizien dafür, dass die Regierung Conte II in der Haushaltspolitik willfährig gegenüber Brüssel agieren wird? Man sollte nicht vergessen, dass die Demokratische Partei unter ihrem neuen Vorsitzenden nach links gerückt ist.
ebo
4. September 2019 @ 16:08
Nein, Conte hat bereits eine Lockerung der EU Regeln gefordert. Für die Dogmatiker in Brüssel wird es nicht leichter. Allerdings hat von der Leyen maximale Flexibilität versprochen…