Scholz-Dämmerung – ein Nachruf
In Brüssel hat die Scholz-Dämmerung begonnen. Der Kanzler hinterlässt ein bitteres europapolitisches Erbe – und das nicht nur in der Ukraine-Politik.
Eine Liebesbeziehung war es nie. Während Angela Merkel als deutsche Chefin der Europäischen Union und „Führerin der freien Welt“ gefeiert wurde, stand Olaf Scholz in Brüssel immer irgendwie am Rande.
Der Start seiner Amtszeit als Bundeskanzler wurde vom Ukraine-Krieg und vom EU-Sondergipfel in Versailles überschattet, den der französische Staatschef Emmanuel Macron mit größtmöglichem Pomp ausgerichtet hat.
Der nüchterne Hanseat Scholz revanchierte sich später bei Macron mit Fischbrötchen. Der deutsch-französischen Freundschaft hat dieses kulinarische Highlight allerdings nicht geholfen – die Beziehungen blieben unterkühlt.
Nun, da Scholz das Ende seiner „Fortschritts-Koalition“ angekündigt hat, weint ihm in Brüssel kaum jemand eine Träne nach. In der EU hat die Scholz-Dämmerung begonnen, alle warten auf den nächsten Kanzler.
Dafür gibt es viele Gründe. Nicht alle haben mit Scholz zu tun. Ein wichtiges Motiv ist der Frust über das „German vote“ – also die Unfähigkeit der Deutschen, europapolitische Entscheidungen zu treffen.
Das liegt nicht nur an Scholz’ Führungsschwäche, sondern auch und vor allem an der FDP. Die Liberalen haben bei wichtigen EU-Gesetzen immer wieder dazwischen gefunkt, so dass sich Deutschland am Ende enthalten musste. Das nervt.
Der FDP und ihrem geschassten Bundesfinanzminister Christian Lindner ist es auch zu „verdanken“, dass die EU nun wieder auf Austeritätskurs ist und halb Europa über die deutsche Schuldenbremse schimpft.
Lindner setzte eine unbrauchbare Reform der Schuldenregeln für den Euro durch, die selbst für Berlin zu restriktiv ist, nun aber dennoch in Kraft tritt. Dass Scholz das nicht verhindert hat, ist unverständlich.
Weiterlesen im “Makroskop”. Siehe auch Scholz-Dämmerung, die 2. (und Letzte?)
WBD
23. November 2024 @ 09:22
@MarMo: Ich denke, eine jahrelanger Berieselung der Bevölkerung durch absolut unkritische Medien hat dazu geführt (“Ich denke auch, dass die EU von den USA entmachtet wurde, aber ich begreife immer noch nicht, wieso die USA es geschafft haben, diese und andere Institutionen derart zu kapern.”). Natürlich gibt es Ausnahmen wie eBo, Nachdenkseiten, etc – aber die DauerDroge Mainstream-Medien wirkt sehr breitgefächert. Der Osten hat da einen gewissen Vorteil: sie sind noch in einer historischen Distanz zur Einheitsmeinungsverbreitung, während wir im Westen immer noch das ehemalige Bild der kritischen Medien im Kopf haben, und gegenüber Tagesschau, Spiegel, Deutschlandfunk (etc) leider viel zu unkritisch geworden sind.
Aber täglich werde es mehr, die die Lügen und Lücken der Berichterstattung erkennen. Ich wundere mich, daß innerhalb der Medien so wenig selbstkritische Reflexion auftauscht…
Arthur Dent
22. November 2024 @ 23:06
@european
„Wenn ich mich richtig erinnere, dann waren die deutsch-franzoesischen Beziehungen bereits unter Merkel eingefroren.“ – ok.
„Europa war nur auf Merkel’s Fahrplan solange der Markt Deutschland diente“. – Genau
„Gemeinsamkeit stand nicht auf der Agenda.“ – steht bei fast allen nicht auf der Agenda. z. B. Frugal Four – Anfangs gehörte Deutschland zu den „Geizigen“, dann aber wandte sich Angela Merkel Macron zu (500 Mrd. Corona-Wiederaufbau). Warum? Merkel sorgte sich um die deutsche Exportwirtschaft, die Märkte im Süden waren stark in Mitleidenschaft gezogen. Macron sorgte sich um die französischen Banken in Italien. Es gab über die Parteilager hinweg keine Gemeinsamkeiten. Der liberale Macron und der liberale Rutte standen gegeneinander. Die konservative Merkel und der konservative Sebastian Kurz standen gegeneinander. Die damals sozialdemokratisch regierten Länder des Nordens standen gegen die sozialdemokratisch regierten Länder des Südens (Spanien, Italien, Portugal) gegeneinander. Weil jeder erst einmal die Bourgoisie im eigenen Land bedienen musste.
Michael
22. November 2024 @ 14:19
Apropos Lindner und FDP Konsorten:
Ich kann in Lindner und Konsorten des Lobbyistenvereins FDP nur – im negativen Sinn – Gesinnungsfundamentalismus erkennen: man argumentiert formalistisch und apolitisch und verwechselt Logik mit Wahrheit und Legalität mit Moral!
Hoffentlich kommt die Rechnung und die FDP fällt unter 5%!
Annonymous
22. November 2024 @ 12:47
“Polens rechtsliberaler Regierungschef Donald Tusk[…] lädt zu Treffen einer selbst ernannten Ukraine-Freundesgruppe, Deutschland ist nicht dabei.”
Ob man jetzt in Berlin endlich einmal erkennt und öffentlich eingesteht dass Polen nicht unser Freund ist und es auch nicht nur nie war sondern offensichtich partei- und gesellschaftsübergreifend auch nie sein wollte? Sowie dann darauf basierend Politik macht?
Wenn man Dr. Sven Thomases Analyse -die ja leider nur bei bild.de zu sehen war- zugrunde legt dass entsprechende militärischen Minen für die 3 von 4 Sprengungen an Nord Stream verantwortlich waren und sich vor Augen führt, dass ein polnisches Minenlegeschiff an Baltops teilnahm, dann brauch ich schon glaubwürdige Entlastungsbeweise um nicht zu denken dass die Polen da direkt (mit)verantwortlich für die Sprengungen sind.
“Die Sozialdemokraten tragen ihre Politik dennoch mit – wenn auch mit geballter Faust in der Tasche.”
Wenn man mich fragt, ist das mindestens seit der Unterzeichnung des Versailler Vertrages trotz der Scheidemannschen Erkenntnis, dass den Unterzeichnern ja die Hand verdorren müsse, das konstant prägende Element der SPD Politik.
Mit dem entscheidenen Unterschied dass eine Alternative zu vdL ja wohl ohne Blutvergießen und Besetzung des Vaterlandes als Konsequenz, möglich gewesen wäre. Aber wenn man sich halt so lange an faule Kompromisse gewöhnt hat…
Arthur Dent
22. November 2024 @ 11:55
Der Niedergang der deutschen Autoindustrie geht voll auf Kappe der EU-Kommission mit ihren verschärften Abgasverordnungen, Verbrenneraus, usw. Die EU will die deutsche Kuh bis zum letzten Tropfen melken – die jetzige und die Vorgänger-Regierung hätten sich gegen die übergriffige EU wesentlich besser zur Wehr setzen müssen. Die EU wartet auf den nächsten Kanzler – vielleicht ist es ja der alte. Merz wartet jetzt auf seine Krönungsmesse? Wenn er sich da mal nicht täuscht. (Man hätte auch keine Neuwahlen gebraucht, der Bundestag hätte sich auch anders auf einen neuen Kanzler einigen können). Merz fürchtet sich nicht vor der Russischen Atommacht, aber umso mehr vor AfD und BSW, hahaha.
Die Bundeswehr hatte bei Amtsantritt von Pistorius mehr Soldaten als heute. Da war Christine Lambrecht wohl die erfolgreichere Verteidigungsministerin. Es nützt nichts, wenn man das Wort Kriegstüchtigkeit fehlerfrei formulieren kann. Deutschland braucht ein Jahrzehnt für den Bau eines Flughafens und eine Ewigkeit für den Stuttgarter Tiefbahnhof – will aber in Nullkommanix die gesamte Industrie auf klimaneutral trimmen. Auto-, Chemie-, Stahlindustrie dürften bald verschwunden sein – wofür dann noch Wasserstoff?
In den Apotheken sind die Regale leer und mit jeder geschlossenen Klinik verbessert sich angeblich das Gesundheitswesen – wie sieht es denn überhaupt mit dem Bevölkerungsschutz im Kriegsfall aus? Wir räumen die Keller auf und die kriegstüchtige Regierung drückt uns beide Daumen. Ich drück mal dem Olaf die Daumen, dann bleibt uns vielleicht die militärische Auseinandersetzung mit Russland erspart.
jjkoeln
22. November 2024 @ 12:47
Der Niedergang der DE Autoindustrie geht auf unternehmerische Fehlentscheidungen zurück:
Die Rolle der Software völlig unterschätzt.
Veraltete SW-Engineeringkonzepte und dysfunktionale Entwicklungseinheuten
Überhöhte Dividenden zur Kurspflege anstelle hinreichende Investitionen in den Aufbau der SW-Entwicklung
Dazu kommt noch die fatale Geringschätzung der Batterie als zentrale Wertschöpfung.
Mahlzeit, wenn Unternehmer zu bequem und denkfaul sind.
Arthur Dent
22. November 2024 @ 14:23
@jjköln
Na klar, man kauft sich ein E-Auto der gehobenen Klasse für 70.000 – 90.000 Euro, nach 3-4 Stunden Autobahnfahrt fährt man von der Autobahn ab, sucht sich irgendwo im nirgendwo eine Ladesäule auf einem Supermarkt-Parkplatz und besucht dann für 2-3 Stunden den dortigen Bäcker bis die Batterie wieder voll ist. Nee, danke. Ein E-Auto ist nur was als Zweitwagen. Hinzu kommt, dass die meisten Autoteile auf Plattformen hergestellt werden. Da muss man Masse machen, sonst wird es teuer.
european
22. November 2024 @ 09:34
Wenn ich mich richtig erinnere, dann waren die deutsch-franzoesischen Beziehungen bereits unter Merkel eingefroren. Als Macron 2017 voller Enthusiasmus mit seiner Idee einer souveraineté européenne vorpreschte prallte er mit voller Wucht gegen die Berliner Mauer.
https://www.elysee.fr/emmanuel-macron/2017/09/26/initiative-pour-l-europe-discours-d-emmanuel-macron-pour-une-europe-souveraine-unie-democratique
Europa war nur auf Merkel’s Fahrplan solange der Markt Deutschland diente. Ein gemeinsames Europa war ueberhaupt nicht ihr Ding denn Deutschland war in diesem Binnenmarkt auf Gewinnerkurs – sehr zu Lasten der anderen Laender. Merz hat spaeter diesem Gehabe uebrigens noch eins draufgesetzt indem er davon schwaermte, wie sehr uns doch die europaeischen Nachbarn um unseren Erfolg beneiden und dass Europa seiner Fuehrung bedarf. (Man muss aufpassen, dass einem nicht uebel wird bei so viel Selbstgefaelligkeit und Ignoranz der Tatsachen)
Nein, man war da noch der Meinung, dass die faulen Suedlaender auf Kosten der fleissigen Deutschen leben und dass man schliesslich die Lokomotive Europas sei und dementsprechend den Ton angeben koenne. Gemeinsamkeit stand nicht auf der Agenda.
Von daher hat Scholz ein schweres Erbe uebernommen und es leider nicht verstanden, diese Kluften wieder zu ueberwinden, obwohl er mit seinem franzoesischen Counterpart LeMaire seinerzeit sehr gut zusammengearbeitet hat z.B. beim EU Aufbaufonds fuer alle Laender. Daran haette er anknuepfen koennen.
Es gibt einiges auszusetzen an Scholz und er war auch nicht mein Wunschkandidat, aber der schlechte Zustand bzw. der regelrechte Zerfall des Landes gehen auf 16 Jahre Merkel und CDU-Regierung zurueck. Von daher wundern mich die Wahlumfragen sehr. Wie koennen allen Ernstes immer noch 30plus Prozent der Waehler dort ihr Kreuzchen machen?
MarMo
22. November 2024 @ 20:36
Genauso ist es. Von wegen Merkel als große Europäerin! Merkel hat in der Tat die EU genutzt für deutsche Interessen. Überhaupt, diese ganze Merkel-Lobhudelei in den deutschen Medien!
Hinzu kommt, dass sie eine hundertprozentige Transatlantikerin war. Ihr Veto beim NATO-Treffen 2008 war ja gar kein echtes Veto. Am Ende ist sie eingeknickt und hat zugestimmt, dass die Ukraine zu einem unbestimmten Datum in die NATO aufgenommen wird, weil sie nicht den Mumm hatte gegen Bush zu stimmen (ich denke immer noch an die Grillfete, die sie zu seinen Ehren veranstaltet hat und die den Steuerzahler mehrere Millionen gekostet hat.
Und es stimmt: Der miserable Zustand des Landes ist ihr anzulasten. Sie hat die Infrastruktur verfallen lassen, nichts für den Klimaschutz getan, ihrer Regierung hat den Armutsbericht manipuliert, sie hat uns krass über Corona belogen, usw. Diese Liste könnten wir endlos weiter führen – während sie den Deutschen in sirenenhafter Manier immer wieder singen wollte, wie gut es dem Land geht.
Helmut Höft
23. November 2024 @ 09:27
Merkel, die große Europäerin? Kohl: “Die macht mir mein Europa kaputt!”
Tzja, nicht nur Europa! Die – nach wie vor – beliebteste Politiker*inn! Unterm Kaiser soll auch nicht alles schlecht gewesen sein.
Erika Herzog
22. November 2024 @ 09:23
Hier ein sehr interessantes Interview von Herrn Kujat bei weltwoche:
https://weltwoche.ch/daily/wir-waren-noch-nie-so-nah-an-einem-dritten-weltkrieg-nato-general-harald-kujat-zur-lage/
Beim Vergleich Merkel / Scholz kann man aber durchaus ergänzen. Frau Merkel wurde sehr positiv (jeder kennt die Kartoffelsuppe und den Pflaumenkuchen unserer beliebtesten, bescheidenen Kanzlerin) von Journalisten beurteilt während Herr Scholz noch bevor er Kanzler wurde massiver Kritik ausgesetzt war. Das Unglück in der EU kam meiner Meinung nach mit Frau von der Leyen, und wer hat uns Frau von der Leyen dahingesetzt?
Zudem war Scholz ein Kanzler, der jederzeit von seinen Partnern FDP und Grüne überstimmt werden konnte, es gab in dieser Koalition eine Mehrheit für die Tauruslieferung. Der “schwache” Kanzler hält seine Linie bezüglich Taurus bis heute, das sollte man ihm schon zugestehen, obwohl ich kein Freund von Scholz bin.
Karl
22. November 2024 @ 09:07
Korrektur: Steinmeier (nicht Steinbrück) beim Minsk-Abkommen
Karl
22. November 2024 @ 09:02
Die EU ist ganz schlicht von den USA entmachtet worden und hat sich entmachten lassen. So wie Scholz starr neben Biden saß, als der ihm die Pipeline-Sprengung ankündigte, so haben auch die Vasallen der EU (an erster Stelle Macron, inzwischen mit Marine Le Pen zusammen) mit erstarrten Gesichtern dagesessen und alles hingenommen.
Eingetütet wurde das bereits 2014 (das Putschjahr der Neocons auf dem Maidan), und Merkel und Steinbrück haben es hingenommen. Sie haben das Minsk-Abkommen zur Farce in den Diensten des MIK und Neocon-“Deep State” werden lassen und damit die EU (und die OSZE) zu Karikaturen geschrumpft. Über die traurige Bilanz der devoten Merkel – die damals noch auf dem Höhepunkt von Europas Größe schien – wird noch zu reden sein.
Und Scholz hat Merkels Linie fortgesetzt: ein braver unauffälliger Vasall, der immerhin nicht mehr eskaliert als Washington. Nicht er allein ist dafür verantwortlich, dass die EU heute nicht mehr glänzt – durch ihren selbstverschuldeten Abstieg in die dritte Liga der Weltpolitik.
Emmanuel Todd geht davon aus, dass Europa heute über die Linie London-Polen-Ukraine von den USA beherrscht wird, das frühere Duo Deutschland-Frankreich sei Geschichte. Anders als Ebo sieht Todd die Finanzmisere darin, dass die EU Abermilliarden sinnlos für die Ukraine verpulvere, während Europas Wirtschaftsleistung und Sozialstruktur in den Keller rauschen. Die Schuldenbremse erwähnt er gar nicht.
Hat Todd nicht recht? Handelt es sich nicht im Vergleich zu diesen Abmilliarden, die in der Ukraine zu Asche verbrannt sind, bei der Schuldenbremse um relative Peanuts?
MarMo
22. November 2024 @ 21:24
Ich finde Todds Analyse zutreffend. Es ist absolut unverständlich, dass sich kein Massenprotest gegen die ungeheure Verschwendung von Milliarden von Steuergeldern, die in der Ukraine versenkt werden (wohin wohl) erhebt, während die EU und insbesondere Deutschland verkommt. Was Propaganda und Ideologie alles vermag ist total unheimlich!
Ich denke auch, dass die EU von den USA entmachtet wurde, aber ich begreife immer noch nicht, wieso die USA es geschafft haben, diese und andere Institutionen derart zu kapern.
Helmut Höft
23. November 2024 @ 09:33
FACK! Siehe auch hier: “The art of vassalisation: How Russia’s war on Ukraine has transformed transatlantic relations https://ecfr.eu/publication/the-art-of-vassalisation-how-russias-war-on-ukraine-has-transformed-transatlantic-relations/