Regierungskrise in Deutschland, Regimekrise in Frankreich?
In Berlin tagt der Koalitionsausschuß nun schon drei Tage – bisher ohne Ergebnis. Derweil erlebt Paris den zehnten Aktionstag gegen die Rentenreform. Die beiden größten und wichtigsten EU-Länder sind gelähmt.
Olaf Scholz und Emmanuel Macron – zwei Führer ohne Gefolgschaft? Fast sieht es so aus. Scholz schafft es offenbar nicht mehr, die drei Flügel seiner „Fortschritts-Koalition“ unter ein Dach zu bringen.
„Wir haben ganz offensichtlich in Deutschland eine Regierungskrise“, sagt Oppositionsführer Merz. Die Bundesregierung könne sich in wesentlichen Fragen nicht mehr einigen. „Sie hat in den letzten Tagen und Wochen permanent öffentlich gestritten.“
In der EU gebe es besorgte Stimmen über den Zustand der Bundesregierung, so Merz. „Deutschland ist in Brüssel mittlerweile als Totalausfall registriert. Ein Land, auf das man nicht mehr zählen kann.„
Ganz so schlimm ist es zwar nicht – immerhin wurde soeben der Streit über das Verbrenner-Verbot und die E-Fuels ausgeräumt. Aber von einer deutschen „Führung“ in Brüssel kann aktuell keine Rede sein. Berlin wirkt wie gelähmt.
Noch ernster ist die Lage in Paris. Dort hat Präsident Macron mit seiner Rentenreform einen regelrechten Volksaufstand ausgelöst. Die Regierung muss sich vor den Franzosen verstecken, die Minister bekamen Ausgangsverbot.
Zudem verschärft Macron die Repression. Am zehnten Aktionstag waren 13 000 Polizeibeamte im Einsatz, fast die Hälfte von ihnen in Paris. Die Regierung warnte, radikale Demonstranten wollten „zerstören, Polizisten verletzen und töten“.
Sogar die Gewerkschaften warnen vor einer Eskalation der Gewalt. So könne es nicht weitergehen, so der Tenor in den französischen Medien. Derweil wirft die britische „Financial Times“ die Frage auf, ob Frankreich auf dem Weg in die 6. Republik sei.
Regierungskrise in Berlin, Regimekrise in Paris? Die EU-Politiker haben allen Grund, sich Sorgen zu machen. Bisher herrscht in Brüssel aber immer noch „Business as usual“. Ob „Green Deal“ oder Rentenreform – niemand stellt den EU-Kurs in Frage…
Siehe auch „Scholz und Macron: Der Realität entrückt“ sowie „Heißer Frühling in EUropa“
P.S. Nach rund 30-stündigen Beratungen hat sich die Ampel doch noch irgendwie geeinigt. Die ersten Stellungnahmen klangen allerdings mehr nach einem unentschiedenen Sowohl-als-auch (Ausbau von Straße UND Schiene) als nach einer klaren Richtung. Einig war man sich wohl nur, dass man weiterregieren will…
Arthur Dent
29. März 2023 @ 22:40
@KK
„Und es ist ja nun nicht so, als sei Deutschland (oder die EU) der einzige Verschmutzer auf dieser Welt; solange die Staaten nicht alle zusammenarbeiten, wird das sowieso nix.“ – Richtig, es gerät immer wieder aus dem Blick, dass wir nicht allein auf der Welt sind. Indonesien ist ein großer CO2-Emittent, nicht wegen seiner Schwerindustrie oder der Verkehrsintensität, sondern wie sie ihre Urwälder in rasender Geschwindigkeit in Palmölplantagen umgewandelt haben. Im Prinzip könnten die Fahrrad fahren bis ans Ende ihrer Tage, dass holen die nicht wieder auf.
KK
29. März 2023 @ 13:40
@ Arthur Dent und Thomas Damrau:
Und es ist ja nun nicht so, als sei Deutschland (oder die EU) der einzige Verschmutzer auf dieser Welt; solange die Staaten nicht alle zusammenarbeiten, wird das sowieso nix. Aber wie soll das gehen, wenn der US-geführte Westen durch immer neue Provokationen und eine rigide – und völkerrechtswidrige, brutale – Sanktionspolitik zur Sicherung seiner Vormachtstellung zunehmend die Welt spaltet?
Arthur Dent
29. März 2023 @ 09:07
@Thomas Damrau
„Klimaschutz“ der Ampel kommt zunehmend aus der Wünsch-dir-was-Kiste. Fragen nach sinnvoll oder überhaupt machbar werden gar nicht gestellt. Auch von Journalisten der führenden Printmedien und des ÖRR nicht. In großer Geschwindigkeit werden LNG-Terminals gebaut – wozu, wenn doch die Gasheizungen verschwinden sollen? „Habecks Heizungsplan“ für die Republik dürfte etwa 1.000 Milliarden Euro kosten – wer soll die bezahlen? Antwort: Darüber muss die Politik noch nachdenken. Die Wärmepumpe ist nicht klimafreundlich, nicht mal zu 65% , das lässt der Strommix nicht zu. Wenn in Kürze die AKWs abgestellt werden, dann muss noch mehr Strom durch Kohle erzeugt werden. Wir betreiben WP mit Kohlestrom. Ganz großes Kino. Durch die zunehmende Elektrifizierung des Verkehrs und der Heizungen wird sich zukünftig der Strombedarf in Deutschland vervierfachen. Wo kommt der her? Politik hüllt sich in Schweigen. ThyssenKrupp will grünen Stahl herstellen und benötigt dafür 720.000 Tonnen grünen Wasserstoff. Allein dafür müssten 3.000 zusätzliche Windräder aufgestellt werden. Im Moment wird durchschnittlich 0,5 Windräder am Tag in Deutschland fertiggestellt. Die größte Sorge der Journalisten ist aber, dass die Politiker sich zanken und nicht mehr ganz doll liebhaben.
Thomas Damrau
29. März 2023 @ 10:06
@Arthur Dent
Eher Pippi Langstrumpf als Wünsch-dir-was-Kiste. Wünsch-dir-was suggeriert, dass es „nur“ (unrealistische) Ziele gibt. „Wir sind auf dem richtigen Weg zum Ziel“ ist schon die nächste Stufe der Realitätsverweigerung. Ansonsten Zustimmung.
Und nun alle zusammen:
„Zwei mal drei macht vier
Widdewiddewitt und drei macht neune
Ich mach mir die Welt
Widdewidde wie sie mir gefällt“
Thomas Damrau
29. März 2023 @ 07:05
@Arthur Dent
Der Koalitionsausschuss hat sich zu Lasten des Klimaschutzes geeinigt ( https://www.spiegel.de/politik/deutschland/spd-gruene-fdp-was-die-ampel-beim-koalitionsausschuss-vereinbart-hat-a-667f58f8-a5c2-479a-8032-b81fd9f274be ):
– Ziele beim Klimaschutz werden immer weniger konkret und nachprüfbar: „Wir müssen halt alle irgendwie …“
– Klimaschutz wird immer mehr zur reinen Technologiefrage.
– Viele Streicheleinheiten für die Autofahrer.
– Viel Nebel: „Energie müsse in Zukunft deutlich effizienter eingesetzt werden als bislang“. Könnte man als „Tempo-Limit + keine eFuels“ lesen. Ist aber sicher nicht so gemeint.
Passt aber zum Zeitgeist: Auch auf europäischer Ebene wird es immer wolkiger beim Klimaschutz.
KK
29. März 2023 @ 01:50
@ european:
Macron kann in Frankreich nicht wiedergewählt werden… er bereitet wohl den Boden für höhere und ganz sicher auch noch deutlich lukrativere Weihen, wo nicht die Franzosen über den zu Weihenden bestimmen, sondern die, die von dieser undemokratischen Massnahme profitieren…
Arthur Dent
29. März 2023 @ 00:07
Nach einem am 17.03. auf Le Monde erschienenen Artikel behauptet Macron, die Reform sei notwendig, um sich an den Finanzmärkten weiterhin finanzieren zu können – Entweder Reform oder Bankrott – er steht unter angeblich dem Druck der Staatsverschuldung
Marktkonforme Demokratie fußt halt auf Märkten und Investoren und nicht mehr auf der Volkssouveränität.
european
28. März 2023 @ 21:13
Ich frage mich die ganze Zeit nach dem Sinn dieser Reform. Den Rahmenbedingungen und Daten zufolge war sie nicht nötig und ergibt überhaupt keinen Sinn. Warum peitscht Macron diese Reform ausgerechnet jetzt in dieser brisanten Zeit gegen jede Vernunft durch?
Egal, wie ich es drehe und wende, ich komme zu keinem schlüssigen Ergebnis.
ebo
28. März 2023 @ 21:43
Das Timing habe ich auch nicht verstanden. Sowas macht man nicht inmitten der schlimmsten Krise mit Krieg und Inflation, noch dazu ohne eigene Mehrheit. Offenbar steht Macron unter Druck…
Arthur Dent
28. März 2023 @ 20:12
Warum keine Sanktionen gegen Frankreich wegen übermäßiger Polizeigewalt gegen Demonstranten? Wo ist denn unsere wertebasierte AußengenscherIn? Der Koalitionsausschuss geeinigt: Deutschland wird weiterhin gut regiert, alle können demnächst alles, es wird auch alles teurer, gibt aber auch mehr Zuschüsse und längere Übergangsfristen. Lang lebe der Klimaschutz.
Pjotr
28. März 2023 @ 22:20
„Druck“ – von wem? Etwa das französische Kapital?
ebo
28. März 2023 @ 22:23
Das Kapital, die Märkte, die EU… Und dann will er zeigen, dass er „führen“ kann… Die Konkurrenz mit Deutschland und Polen ist hart!
Thomas Damrau
28. März 2023 @ 18:21
Die deutsche Regierung muss sich eingestehen, dass sich die Meinungsverschiedenheiten nicht durch „Lass uns mal darüber reden – dann werden wir einen Kompromiss mit Maß und Mitte finden“ lösen lässt.
Jedes KI-System wird die Arbeit verweigern, wenn man vom ihm eine Lösung unter den folgenden Randbedingungen fordert:
– Die Welt soll gerettet werden.
– Ein umfangreicher Umbau unserer Energieversorgung soll finanziert werden.
– Der ärmere Teil der Bevölkerung soll nicht endgültig hinten runterfallen.
– Die Wohnungsnot soll bekämpft werden.
– Der Wohnungsbestand soll general-saniert werden.
– Handwerkliche und soziale Berufe sollen durch bessere Bezahlung attraktiver werden.
– Der bürgerliche Mitte soll weiter mit der Aussicht auf „mein Haus, mein Urlaub, mein SUV“ motiviert bleiben.
– Die oberen Zehntausend sollen weiter Geld scheffeln können.
– Der Spaß am Autofahren soll nicht eingeschränkt werden.
– Die Industrie soll nicht geschädigt werden.
– Autobahnen, ÖPNV und Bahn sollen gleichzeitig ausgebaut werden.
– Die Ukraine soll unlimitiert mit Geld und Waffen alimentiert werden.
– Russland soll boykottiert werden.
– Die Handelsbeziehungen zu China sollen eingeschränkt werden.
– Die Ausbeutung der Länder des Südens soll reduziert werden.
– Die Länder des Südens sollen in ihrer Entwicklung und beim Einstieg in erneuerbare Energien unterstützt werden.
– Die Rüstungsausgaben sollen massiv steigen.
– Zusätzliche Schulden sind tabu.
– Steuererhöhungen sind tabu.
– Besitzstände sollen nicht angetastet werden.
– ……
Da helfen werden Nachtsitzungen noch Quanten-Computer: Das geht einfach nicht …
Auf europäischer Ebene ließe sich eine ähnlich widersprüchliche Anforderungsliste zusammenstellen. Nur wird auf europäischer Ebene nicht in der Nacht debattiert, sondern autokratisch dilletiert.
KK
28. März 2023 @ 18:48
“ – Die oberen Zehntausend sollen weiter Geld scheffeln können.“
Das ist die oberste Priorität, dem sich alles andere ohnehin unterordnen muss!
Es wäre nämlich genug Geld für alle und vieles (nicht alles) aus der obigen Liste da, wenn es anders verteilt wäre und zukünftig auch würde.
KK
28. März 2023 @ 17:15
„Ob “Green Deal” oder Rentenreform – niemand stellt den EU-Kurs in Frage…“
…und den Ukraine-Kriegskurs in Richtung weiterer Eskalation erst recht nicht, nicht wahr? Da wird schon gar nicht mehr in den Parlamenten drüber diskutiert, da wird einfach von oben her bestimmt.