Realitätsverlust
Beim EU-Gipfel soll es um Wachstum und Beschäftigung gehen. Doch der Wachstumspakt, den die EU-Chefs im Juni 2012 beschlossen haben, ist immer noch nicht umgesetzt. Gleichzeitig behaupten die EU-Granden, es gebe gar keine Austeritätspolitik – ein klarer Fall von Realitätsverlust.
Die Zahlen sind eindeutig. Nachdem die Eurozone im letzten Jahr in die Rezession gerutscht ist, leiden nun auch noch ihre drei selbst ernannten Anführer, die mit dem “Triple A”: Deutschland, Finnland und die Niederlande.
In Deutschland und Finnland ist die Industrieproduktion im Januar gefallen, wie die FT meldet. Die Niederlande stecken so tief in der Krise, dass sie 2013 die EU-Sparvorgaben verfehlen – ein Armutszeugnis für ein Land, das den Eurogruppenchef stellt.
Offenbar hat sich die Wirtschaftskrise zu Beginn dieses Jahres noch verschärft. Fast alle Experten führen dies auf den generalisierten Sparkurs zurück. Die Bürger protestieren gegen die Austeritätspolitik, heute sind Großdemos in Brüssel.
Doch die EU-Chefs tun immer noch so, als würden sie eine “wachstumsfreundliche Haushaltskonsolidierung” betreiben, wie man dies in Berlin nennt. Das hat genauso viel mit der Realität zu tun wie die eierlegende Wollmilchsau.
Kommissionschef Barroso schimpft zwar, die Chefs hätten ihren Wachstumspakt nicht eingelöst, der erst im Juni beschlossen worden war. Doch gleichzeitig lässt er seine Sprecher per Twitter behaupten, die EU sei auf gutem Wege.
Als sei dies nicht genug, verstrickt sich Währungskommissar Rehn in wilde Streitereien mit dem US-Nobelpreisträgern Krugman, der die Sparpolitik in Euroland anprangert. Der “Kakerlakenkrieg” widert sogar die “SZ” an.
Und Rehns Chefökonom Buti spricht allen Ernstes von einem “Religionskrieg”. In einem Newsletter zieht er gegen den “Austeritäts-Mythos” zu Felde und behauptet, die EU sei einig mit anderen internationalen Organisationen.
Falsch: der IWF ist längst von der EU-Sparpolitik abgerückt, WHO und ILO prangern die Spaltung in ein armes, krankes und ein sattes, reiches Europa an, und die G20 weigern sich, den Spardiktaten aus Berlin zu folgen.
Kurz: dieser Gipfel steht im Zeichen eines kompletten Realitätsverlustes. Dementsprechend dürften die Ergebnisse ausfallen…
P.S. Dies ist übrigens nicht nur meine Meinung. Ganz ähnlich äußern sich der Chef der Liberalen im Europaparlament, G. Verhofstadt, und der Grünen-Politiker D. Cohn-Bendit. Nachzulesen im unbedingt lesenswerten Blog von J. Quatremer (en francais).
Manfred
15. März 2013 @ 12:53
Der Europäische Rat ist der große Gewinner des Vertrags von Lissabon. Wenn er auch keine gesetzgeberischen Befugnisse hat, so hat er doch die Macht und gibt den einzelnen Ratsformationen in politischen Schlüsselfragen die Richtung vor. Seine Beratungen stehen im Zentrum des öffentlichen Interesses und der Medienberichterstattung. Seine Sitzungen werden vom Ausschuss der Ständigen Vertreter und vom Rat “Allgemeine Angelegenheiten” vertraulich vorbereitet. Vor und nach den Gipfeltreffen informieren die einzelnen Staats- und Regierungschefs ihre nationalen Medien und vielfach auch ihre nationalen Parlamente über ihre Sicht der Gipfelergebnisse. Was im Europäischen Rat vorgeht, wissen nur die Staats- und Regierungschefs selbst, der ER-Präsident sowie der Kommissionspräsident und deren engsten Mitarbeiter.
Diese Situation schreit geradezu nach mehr demokratischer Transparenz und Kontrolle.
Der EU-Vertrag schreibt nicht vor, dass der Europäische Rat unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagt. Die Nichtöffentlichkeit seiner Sitzungen wird nur durch seine selbst gegebene Geschäftsordnung (Art. 4 Abs. 3) vorgeschrieben.
Warum soll das Plenum des Europäischen Rates nicht öffentlich tagen? Warum sollen die nationalen Parlamente, die Medien und die Bürgerinnen und Bürger der Mitgliedstaaten sich nicht durch eigene Anschauung über das Diskussions- und Abstimmungsverhalten ihres Staats- bzw. Regierungschefs informieren können?
Da die ER-Beratungen etappenweise durch vorherige bilaterale Kontakte, durch Beratungen des AStV und des Rates “Allgemeine Angelegenheiten” und durch Vorbesprechungen vorbereitet werden, sehe ich keine durchgreifenden Argumente gegen eine Öffentlichkeit unter dem Gesichtspunkt der Entscheidungseffizienz und Problemlösungsfähigkeit.
marty
14. März 2013 @ 21:30
@ebo: Ça alors! 😉
Es ging mir natürlich nicht darum, die EU mit der UdSSR gleichzusetzen (oder gar die unsäglichen Verbrechen des Sowjet-Imperiums zu verharmlosen).
Ich wollte die EU-Kommission und das Polit-Büro der UdSSR “nur” in Bezug auf einen Aspekt vergleichen (“Abgehobenheit und Weltfremdheit” [siehe oben] − oder wie Du es zu Recht nennst: “kompletter Realitätsverlust”). Und hier sind die Parallelen eindeutig.
Ein kleiner Zirkel von realitätsfremden, technokratischen Ideologen denkt sich in seinem Bunker immer wieder einen neuen großen Sprung nach vorn aus (OK, der Begriff stammt aus Peking und nicht aus Moskau). Die Versuche werden von Mal zu Mal dogmatischer und verbissener. Und es geht dabei nicht etwa um das Schicksal der europäischen Frauen, Männer und Kinder − sondern um völlig abstrakte Ziele und ideologische Benchmarks.
Hier eine kleine Auswahl:
(circa 1983:) Hey Leute, lasst uns die seit 1973 anhaltende Eurosklerose beenden (http://de.wikipedia.org/wiki/Eurosklerose ) − wir brauchen jetzt den gaaaaanz großen Wurf.
(circa 1984:) Hey Leute, lasst uns doch einen noch vollkommeneren Binnenmarkt kreieren − so vollkommen, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat. Mit dem vollkommensten Regel- und Normenwerk aller Zeiten.
(circa 1990:) Hey Leute, lasst uns doch eine Währungsunion aus dem Boden stampfen. Das wird die größte und tollste Welt-Leitwährung, die die Menschheit je gesehen hat. Der gaaaaanz große Sprung nach vorn.
Wie man an diesen Beispielen sieht, beginnt der Dogmatismus nicht erst mit “Lissabon”. Schon die todgeweihte Währungsunion völlig heterogener Staaten zeigt sowjetischen Größenwahn (vgl. Baumwoll-Anbau in der kasachischen Steppe). Und was machen die Jungs jetzt, wo all ihre grandiosen Pläne grandios gescheitert sind? Sie verabreichen − einfältig grinsend − immer größere Dosen Fiskal-Sadismus.
ebo
14. März 2013 @ 22:42
Puh, ich dachte schon, Du bist auch in diese EUdSSR-Fraktion übergewechselt 😉
Johannes
14. März 2013 @ 21:05
Nach den Bundestagswahlen wird das Sparschwein Deutschland zur Schlachtbank geführt unter Federführung von Frankreich und unter lautem Applaus des Südens. Also warum regt ihr euch alle auf? Lustig, Ebo spricht von “ein klarer Fall von Realitätsverlust” . Den haben die Leute, die die totale Vergemeinschaftung der Schulden im Interesse der Banken fordern, teilweise auch. Also kommen alle auf einen Nenner, alle haben den totalen Realitätsverlust, immerhin, man hat eine große Gemeinsamkeit, das schweißt doch wieder zusammen 😉
marty
14. März 2013 @ 20:46
@melina: Ja, es tut wirklich weh, was Brüssel und der Euro aus unserer Familie gemacht haben! Und wie Not & Verzweiflung z.B. die Griechen in die Arme der “Goldenen Morgendämmerung” treiben …
Und Du hast völlig recht, “es muss gestoppt werden!” Aber wie?
Wir können ja nicht alle ständig nach Brüssel zur Demo fahren (falls das was bringt) − und außerdem gibt es gar keinen europäischen “demos”. 🙁
Die gute Nachricht: vorerst brauchen wir den auch nicht.
Oliver Nachtwey zeigt in seinem lesenswerten “taz”-Artikel den Weg auf: zunächst muss jedes Land mit seiner eigenen neoliberalen Mafia fertigwerden. Ergo: “Europäische Solidarität bedeutet in diesem Land, Merkel zu bekämpfen.” (http://www.taz.de/Debatte-Protestbewegungen/!111893/ ).
melina
14. März 2013 @ 19:50
marty,
richtig, das tut weh, wenn man sieht, was aus Europa geworden ist! Als Linke tut es ebenso weh, zu sehen, wie diese Politik den Rechten die Menschen scharenweise zutreibt.
Was du als Weltfremdheit und Abgehobenheit bezeichnest, ist für mich der
Ausdruck einer grenzenlosen Menschenverachtung. Und es ist Kalkül und keine Dummheit, worüber wir ja schon mal diskutiert haben. Es ist so gewollt und es muss gestoppt werden!
marty
14. März 2013 @ 19:11
Es tut wahnsinnig weh, sich das als Linker einzugestehen − aber im Prinzip hatte die rechtslastige britische Boulevard-Presse die ganze Zeit recht.
Nein, natürlich nicht, was das seriöse Berichten von EU-Fakten ohne Schaum vor dem Mund angeht − das ist nicht gerade ihre Stärke. Aber der uralte Vergleich Brüssel = Moskau kommt einem von Tag zu Tag plausibler vor.
Das Raumschiff Brüssel erinnert in seiner grotesken Abgehobenheit und Weltfremdheit immer mehr an das sowjetische Polit-Büro. Vielleicht sind die Apparatschiks in Brüssel etwas weniger senil (und der Frauen-Anteil ist etwas höher). Aber abgesehen davon − wo ist der große Unterschied?
In der UdSSR wurde die sensationelle Plan-Übererfüllung bei der Traktoren-Produktion gefeiert − das Brüsseler Polit-Büro feiert täglich die neuesten glorreichen Erfolge bei Austeritäts-Politik und “Euro-Rettung”.
Abweichende Stimmen, die diese großartigen Erfolge bezweifeln, werden zwar nicht nach Sibirien geschickt − dafür erlässt EU-Kommissar Rehn einfach mal ein Diskussionsverbot (vgl. Deinen Post vom 22.02. − https://lostineu.eu/fur-neue-kennziffern/ ). Und von demokratischen Wahlen hält man schon lange nichts mehr.
In einem Punkt ist das Brüsseler Polit-Büro sogar noch schlimmer als sein Moskauer Gegenstück: jeder KPdSU-Apparatschik (auch aus dem hintersten kaukasischen Bergdorf) sprach fließend und akzentfrei Russisch.
In Brüssel hingegen sitzen intellektuelle Tiefflieger wie Oettinger (oder Stoiber) und palavern in primitivem Pidgin-Englisch im Worthülsen- und Bullet-Point-Stil
(“implementing proactive growth strategies … meeting country-specific competitiveness benchmarks … enhancing technology-sensitive assessment procedures”). Ob die Jungs überhaupt wissen, was sie da sagen?
Na ja, die Ergebnisse kann man jedenfalls anhand der blühenden Landschafen in ganz Südeuropa besichtigen.
ebo
14. März 2013 @ 20:09
@marty Das sehe ich nicht so, man kann die EU keineswegs mit der UdSSR vergleichen, und die britische Yellow-Press lag völlig daneben! Die Eu war bis 2005 auf ganz gutem Wege, mit einer recht fortschrittlichen Verfassung, einer eigenen Sicherheitsstrategie ohne den Us-interventionismus, passablem Wachstum etc. Sie änderte ihren Charakter, als sie sich über die Referenden in FR und NL hinwegsetzte. Von da an gab D den Ton an – und erzwang einen Kurs gegen die Völker. Mit der Krise in GR wurde es dann noch krasser, denn D hat versucht, eine Marktdemokratie durchzusetzen, statt die Märkte zu bändigen. – Was die Bürokratie betrifft, so dienst sie vor allem der Industrielobby, es ist sozusagen eine “kapitalistische” Bürokratie, keine sowjetische oder EU-spezifische…