Putsch gegen EuropaÂ
Die Wahl in der Türkei ist nicht nach internationalen Standards verlaufen. Zu diesem Schluß kommen die Wahlbeobachter. Statt von einer demokratischen Entscheidung muss man wohl eher von einem islamisch inspirierten Putsch sprechen – doch die EU hält still.
Nach dem umstrittenen Referendum in der Türkei hat die EU-Kommission die Regierung in Ankara aufgefordert, eine „transparente Untersuchung“ zu den Manipulationsvorwürfen einzuleiten.
Die türkischen Behörden seien aufgerufen, „mutmaßliche Unregelmäßigkeiten“ zu untersuchen, die von den Beobachtern festgestellt worden seien, so der Sprecher von Kommissionschef Juncker.
Geht’s noch? Die Unregelmäßigkeiten sind nicht „mutmaßlich“, sondern gut dokumentiert. Die „transparente Untersuchung“ hat Sultan Erdogan schon am Vortag abgelehnt. Der EU-Appell läuft ins Leere.
Von langer Hand geplant
Erstaunlich ist das nicht. Erdogan zeigt der EU schon seit Jahren die kalte Schulter. Spätestens seit den Protesten am Gezi-Park 2013 setzt er sich systematisch über alle Forderungen aus Brüssel hinweg.
Den gescheiterten Militär-Putsch vor einem Jahr hat der Sultan mit einem eigenen Putsch beantwortet. Die Opposition wurde unterdrückt, die Medien geknebelt. Europäische Werte werden mit Füssen getreten.
Wenn nicht alles täuscht, war die Machtergreifung von langer Hand geplant. „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind“, sagte Erdogan schon 1998.
Die EU verteidigt Europa nicht – leider
Auch die kemalistische, an Europa angelehnte Ordnung lehnt Erdogan ab. Systematisch hat er alle Institutionen geschleift, die das Erbe Atatürks bewahren sollen – und islamische Regeln eingeführt.
Die EU hat sich leider als unfähig erwiesen, darauf angemessen zu antworten und „Europa“ zu verteidigen. Die Entmachtung des Militärs begrüßte sie als „Demokratisierung“, die Islamisierung wollte sie nicht sehen.
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Auch auf Erdogans Machtergreifung wußte sie keine Antwort. Statt sich entschieden dagegen zu stellen, wählte sie den Weg des geringsten Widerstands. Am Ende ging es nur noch um Appeasement.
Brüssel könnte gegenhalten – wenn es wollte
Dabei hätte die EU  – wenn sie nur wollte – starke Gegenmittel. Sie könnte die 4,5 Mrd. Euro schweren Vorbeitrittshilfen für die Türkei kappen oder die Zollunion auf Eis legen. Beides würde Erdogan weh tun.
Doch Brüssel wagt es nicht, und Berlin will es nicht. Sanktionen würden ja dem Handel schaden und den Flüchtlingspakt gefährden. Also herrscht Business as usual – auch nach diesem Putsch gegen Europa…
kaush
19. April 2017 @ 17:38
@paul7rear
Zustimmung!
Anfügen möchte ich noch den Ausnahmezustand in Frankreich, die drastisch eingeschränkten Bürgerrechte generell in der EU. Auch in GB und auch in Deutschland.
Alle offen gelegten Schweinereien in Sachen Überwachung (durch Snowden und WikiLeaks) haben zu was geführt?
Mehr Überwachung und nachträgliche Legalisierung.
Und nicht zu vergessen: Als Dank musste Snowden nach Moskau flüchten. Auch heute sieht sich Deutschland nicht im Stande, seine Unversehrtheit (zwecks Befragung) hier zu garantieren.
Julian Assange ist widerrechtlich (von der UNO festgestellt) in der Botschaft Ecuadors in London festgesetzt.
Ach, beinahe vergessen: Das Demonstrationsrecht in Spanien ist bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Auch das wurde von der UNO gerügt.
Aber wie toll ist EUropa, wir sind die Schönsten, wir sind die Tollsten. Zumindest nehmen wir die Fresse am aller vollsten!
Was war 04.09.15, als sich Merkel in einem Akt der Selbstermächtigung übers Grundgesetz hinweggesetzt hat?
Ohne Volk, oder Parlament vorher zu fragen? Egal?
Da gab’s tausende Anzeigen. Was ist daraus geworden? Irgendein Gerichtsverfahren?
Aber wenn in der Türkei jetzt Bürger zum Gericht gehen, wegen der verlorenen Abstimmung, dann halten die heldenhaften Journalisten mit ihrer Kamera drauf.
Wow, ihr seit so toll.
So sind die europäischen Eliten – Helden der Doppelstandards und Heuchelei.
Blase
19. April 2017 @ 17:02
Es scheint doch eher so, dass das ein abgekartetes Spiel zwischen Frau Kanzlerin und dem Pascha war. Von Anfang an. Es hätte massenhaft Druckmittel gegeben, das einschließlich der Verschiffung von „Syrern“ nach Europa zu unterbinden. Die „Politik“ der EU wollte mehrheitlich das jetzige Chaos. Der Preis könnte viel höher ausfallen, als die heute noch zu glauben scheinen. Dummheit oder Unfähigkeit war nichts davon. Dann sollen sie die Suppe mal auslöffeln.
Peter Nemschak
19. April 2017 @ 20:42
Welcher Preis?
Atir Kerroum
19. April 2017 @ 13:18
Die EU hat Erdogan zum Sultan gepäppelt. Erst die Politik der EU ermöglichte Erdogan, sich als der Macher zu inszenieren, der Europa den Takt vorgibt.
Peter Nemschak
19. April 2017 @ 11:05
@ebo Sie würden gerne alles, was Politiker sagen oder tun für bare Münze nehmen. Die politische Realität ist anders, Merkel dabei keine Ausnahme. Wahrscheinlich hätte eine Beschleunigung der Beitrittsverhandlungen Inkompatibilitäten rasch zum Vorschein gebracht. In Wahrheit hat niemand, auch nicht Merkel, einen Beitritt der Türkei zur EU je ernstlich gewollt, zu gewissen Zeiten vielleicht tagespolitisch für opportun propagiert. Ein Beitritt wäre am Veto der Parlamente oder Referenden in den Mitgliedsländern mit Sicherheit gescheitert. Daher konnte man gefahrlos das Satyrspiel betreiben, weil ohnedies nichts auf dem Spiel stand. Daher verstehe ich die Aufregung um den Kandidatenstatus der Türkei nicht. Er hat seine Schuldigkeit getan und kann getrost gehen. Die wechselseitigen Wirtschaftsinteressen sind derzeit der beste Garant dafür, dass der Flüchtlingsdeal hält. Es wird spannend werden, wie sich die Türkei bei der zu erwartenden Aufteilung Syriens in Bezug auf den von den Kurden betriebenen zukünftigen Kurdenstaat verhalten wird. Jedenfalls wird der Mittlere Osten noch lange der EU Kopfzerbrechen machen.
hintermbusch
19. April 2017 @ 07:14
Könnte es sein, dass Wahlen von „unseren“ Wahlbeobachtern sehr selektiv kritisiert werden? Ich erinnere mich da an eine äußerst merkwürdige Auszählung in Florida, die im Jahr 2000 einen gewissen G.W. Bush an die Regierung gebracht hat, der dann auch sogleich den Nahen Osten in Schutt und Asche legte.
hyperlokal
18. April 2017 @ 18:48
Ich könnte mir vorstellen, dass die EU-Kommission und Frau Merkel das Modell „Erdogan“ gar nicht so anrüchig finden, schließlich ist die Wirtschaft offensichtlich auch angetan! Die türkische Lira gestiegen um über 20 Prozent, man erwartet von Erdogan eine starke Liberalisierung der türkischen Wirtschaft, … da glänzen die Augen der Kommission.
Eine schnieke europäische Präsidial-Diktatur? Diese Möglichkeit haben unsere Eurokraten garantiert schon antizipiert. Schließlich möchte man mit Trump, Putin und Xi auf Augenhöhe kommen.
ebo
18. April 2017 @ 18:51
Diesen Verdacht habe ich langsam auch…
Peter Nemschak
18. April 2017 @ 20:08
An einen EU-Beitritt der Türkei haben seit Jahren in Europa nur besonders naive Menschen geglaubt. Machen wir doch wirtschaftlich das Beste daraus und bieten wir türkischer Intelligenz eine Heimat bei uns.
ebo
18. April 2017 @ 20:22
Es war die „naive“ Frau Merkel, die eine Beschleunigung der Beitrittsverhandlungen aushandelte.
paul7rear
18. April 2017 @ 17:51
@ebo
Europäische Werte werden mit Füssen getreten, von was reden Sie??
Meinen Sie jene europäischen Werte, die von Napoleon Bonaparte über den verrückten König Leopold von Belgien, der bekanntlich in Belgisch-Kongo seinen Kinder-Sklaven die Hände abschlagen lies nur weil diese zu wenig arbeiteten, oder meinen Sie den deutschen Imperialismus der schlussendlich direkt in den Untergang führte? Oder, doch mehr Afghanistan, Libyen, Syrien, Ex-Jugoslawien, Ukraine und Irak Man könnte auch die Gesinnungsdiktatur von Heiko Maas anführen; oder, dass Angela Merkel ja auch durch die dumme einfältige Landbevölkerung gewählt wurde und ihre passive Wahlkampfunterstützung von Erdogan 2015, alles schon vergessen? Mir reicht es mit den europäischen Werten, ehrlich!!! Der medial getragene Pawlow’sche Reflex beim rühren der türkischen Suppe ist nach 50 jährigen Beitrittsgesprächen unangemessen.
Kämpfen wir lieber im Hort der Einfältigen für die Zivilisation.
ebo
18. April 2017 @ 17:53
@paul7rear Sorry, ich halte es immer noch mit Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – und nicht mit den Moslem-Brüdern, die Erdogan gratuliert haben
paul7rear
18. April 2017 @ 18:20
Vive la France, vive la République. Ach, Trump hat auch gratuliert. 🙂
Peter Nemschak
18. April 2017 @ 20:04
Unter Gleichen aber nicht unter Ungleichen.
Peter Nemschak
18. April 2017 @ 17:49
Nur kein Pathos ! Die Türkei muss ja nicht der EU beitreten. Es ist ohnedies eher ein Glück als ein Unglück oder wollen wir eine direkte Außengrenze mit dem wilden Kurdistan oder dem Iran ? Es war kein Putsch gegen Europa eher für das Wohlergehen Europas.
ebo
18. April 2017 @ 17:57
Pathetisch ist es, Deutschland oder die Niederlande mit der Nazi-Diktatur zu vergleichen, wie es Erdogan ständig tut. Schon mitbekommen?
Peter Nemschak
18. April 2017 @ 20:03
Sind Sie aber empfindlich. Sie betrachten einen dahergelaufenen orientalischen Despoten als Equal: Geschmacksache.
ebo
18. April 2017 @ 20:05
Sehr witzig. Merkel nannte ihn „Schlüsselpartner“ und kroch ihm in den Allerwert… Wenn man von der Realität abstrahiert, ist das natürlich alles völlig belanglos.