Orwell lässt grüßen, Johnson lässt warten – und ein neues Lager auf Lesbos

Die Watchlist EUropa vom 4. Dezember 2020 –

Die Europawahl 2019 ist ohne nennenswerte Einmischung von außen über die Bühne gegangen. Die EU-Kommission hatte zwar eigens einen Alarmmechanismus gegen „Fake News“ eingerichtet, doch der wurde nicht gebraucht.

Dass die Demokratie auf der Strecke blieb, lag am Ende nicht an Russland oder China, sondern an den EU-Staaten, vorneweg an Frankreich, die das System der Spitzenkandidaten ablehnten und eine eigene Kandidatin durchsetzten.

So weit zur Historie. Nun kommt die aktuelle Pointe: Die nicht gewählte Kandidatin hat sich die „Verteidigung der Demokratie“ auf die Fahnen geschrieben. Damit meint sie allerdings nicht etwa ein neues, demokratisches Wahlsystem.

Nein – es gilt, die Wahlwerbung im Internet einzuschränken und den Kampf gegen „Desinformation“ und Fake News zu verstärken. Wie dies gehen soll, hat am Donnerstag die EU-Kommissarin Jourova erklärt. Es erinnert an Orwell.

Ich habe nicht die Absicht, zur Wahrheitsministerin zu werden“, setzte sie an. Aber das Internet müsse stärker kontrolliert werden. Die Selbst-Regulierung von Facebook, Twitter & Co. reiche nicht aus.

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Aha, jetzt geht es gegen US-Präsident Trump und seine 88,7 Millionen Follower, könnte man meinen. Oder gegen Facebook-Chef Zuckerberg, der sich allen Gesetzen entzieht und sogar sein eigenes Geld schaffen will.

Doch weit gefehlt! Jourova hat es auf die EU-Gegner in UK sowie auf Russland und China abgesehen. Eine Lügen-Kampagne wie beim Brexit dürfe sich nicht wiederholen, auch „Fake News“ zu Corona müsse man stärker bekämpfen.

Und was schlägt sie konkret vor? Das „Microtargeting“ bei der Wahlwerbung soll eingeschränkt werden. Zudem soll es den „Profiteuren“ von Fake News an den Kragen gehen – mit Geldstrafen und Werbesperren.

Ob man dazu nicht die Parteien an die Leine legen und die Plattformen überwachen müsse, fragte ein Journalist. Ja, sagte Jourova. Die Meinungsfreiheit werde jedoch nicht beschnitten. „Wir gründen kein Wahrheitsministerium“.

Orwell hätte seine helle Freude…

Mehr zum Thema Desinformation hier, Fake News hier, der offizielle Entwurf steht hier

Watchlist

Kommt am Wochenende die Lösung im schier unendlichen Brexit-Streit? Das hofft man in Brüssel, nachdem Premier Johnson am Donnerstag ein weiteres EU-Ultimatum ignoriert hat. Allerdings ist man sich in den großen Streitfragen – Fischerei, Level Playing Field und Governance – imemr noch nicht einig. Die Verhandlungen glichen einem Marathonlauf, sagte ein Beteiligter. Man habe schon 40 Kilometer geschafft – doch niemand wisse, ob man rechtzeitig über die Ziellinie laufen werde… – Alles zum Brexit hier

Was fehlt

Das neue, angeblich tadellose Flüchtlingslager auf Lesbos. Bis September 2021 werde dort ein „neues, qualitativ hochwertiges Aufnahmezentrum“ entstehen, erklärte die EU-Kommission. Es ist das erste Mal, dass die EU sich direkt an Bau und Verwaltung eines Flüchtlingslagers beteiligt. Das bisherige Camp war im Herbst abgebrannt. Seither hat sich die Lage der mehr als 12.000 Menschen noch einmal verschlechtert. Doch nun müssen sie weiter warten – auf den Neubau…

Das Letzte

Kann der Corona-Aufbaufonds auch ohne bzw. gegen Polen und Ungarn starten? Dies will die EU-Kommission prüfen. Das bevorzugte Modell orientiere sich an der EU-Arbeitslosenhilfe „Sure“, schreibt die „FAZ“. Die Hilfen würden damit durch freiwillige Garantien der Staaten abgesichert statt wie bisher vorgesehen direkt über den EU-Haushalt. Die Planungen sollen den Druck auf Ungarn und Polen erhöhen – genau wie die Planung für einen gekürzten Nothaushalt für 2021. – Mehr dazu hier

P. S. In Polen scheint der Druck erste Wirkung zu zeigen. Die Regierung deutet an, dass sie ihr Veto aufheben könnte…