Mit Biden wird es nicht besser
Die “rote Welle” ist ausgeblieben, Donald Trump ist geschwächt: In Brüssel wurde das Ergebnis der Midterm-Wahlen in den USA mit Erleichterung aufgenommen. Doch die EUropäer sollten sich nicht zu früh freuen. Die besten Zeiten mit Präsident Joe Biden sind vorbei.
Selbst wenn Biden nicht mit großem Gegenwind aus dem Kongress rechnen muss – was abzuwarten bleibt, bisher sieht es eher nach einem Patt aus – wird der transatlantische “Honeymoon” nicht weitergehen. Im Gegenteil: Für die EU wird es ernst.
Besonders deutlich ist dies in der Handelspolitik: Biden ist wie sein Amtsvorgänger Trump auf einen protektionistischen Kurs geschwenkt. Mit seinem „Inflation Reduction Act“ könnte er einen transatlantischen Handelskrieg vom Zaun brechen.
Es gilt aber auch für die Energiepolitik: Die EU hat sich zwar aus der Abhängigkeit von Russland gelöst – dafür hängt sie nun am Tropf der USA. Doch die LNG-Lieferungen werden nicht ausreichen, um den Bedarf zu decken, wie sogar Brüssel warnt.
Auch der Wirtschaftskrieg, den die EU am Rockzipfel der USA gegen Russland angezettelt haben, erweist sich als Bumerang. Die USA sind die größten Gewinner, die EU zählt zu den Verlierern. Die nahende Rezession wird zur Zerreißprobe.
Derweil wird der Krieg in der Ukraine noch gefährlicher. Biden positioniert die US-Streitkräfte immer näher an die Grenzen Russlands, das größte Atom-U-Boot nimmt Kurs aufs Schwarze Meer. In Deutschland wird ein neues US-Hauptquartier eingerichtet.
Gleichzeitig erhöht Biden den Druck auf die Europäer, sich mit mehr Waffen und mehr Geld noch engagierter in die Schlacht zu werfen. Denn die USA bereiten sich auch noch auf einen Krieg mit China um Taiwan vor; er könnte schon bald beginnen.
Europäische Interessen verteidigen
In dieser Lage muß die EU endlich europäische Interessen verteidigen und sich von den USA absetzen. Sie muß beim Handel Zähne zeigen, die Sanktionen gegen Russland überprüfen, in der China-Politik auf Mäßigung drängen.
Außerdem braucht sie eine eigene Ukraine-Strategie, die den Krieg begrenzt und beendet, statt ihn wie bisher auszuweiten und zu verlängern. Der russische Teil-Rückzug aus Kherson ist eine große Chance für die Diplomatie.
Doch die EU-Außenminister denken gar nicht daran, eine diplomatische Initiative zu starten. Stattdessen bereiten sie neue, noch härtere Russland-Sanktionen vor, auch der Ton gegen China wird immer rauer.
Die meisten EU-Politiker haben nicht einmal erkannt, dass ein “Weiter so” den eigenen Interessen widerspricht. Sie vertrauen weiter auf Biden – dabei wird er nach den Midterms noch weniger Rücksicht auf Europa nehmen…
Siehe auch “Die größte Abhängigkeit” und “China, Ukraine, Krieg: Wo bleibt das europäische Interesse?” sowie Ukraine-Krieg: USA erwägen Verhandlungen – und sorgen sich um die EU
P.S. Schade eigentlich, dass es in der EU keine “Midterms” gibt. Das würde die EU-Politiker zwingen, ihre Politik zu verteidigen und vermutlich manches durcheinander wirbeln…
P.P.S. Die Anzeichen für einen Krieg um Taiwan mehren sich. So schreibt die “Financial Times”: US warns Europe a conflict over Taiwan could cause global economic shock. Offenbar versucht Washington bereits, Brüssel auf Linie zu brigen…
Thomas Damrau
11. November 2022 @ 18:00
@Kleopatra
Womit wir wieder am Ausgangspunkt der Diskussion wären: Da es innerhalb der EU keine Funktion gibt, die die außenpolitischen Ziele der EU erarbeitet – geschweige denn diese Ziele in eine Strategie übersetzt, starrt die EU-Zentrale in Brüssel auf die NATO-Zentrale in Brüssel.
In der Konsequenz rennen die EU-Staaten entweder wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen herum (z.B. “Koalition der Willigen aus dem Neuen Europa” beim Irak-Krieg) oder die Hühner scharen sich ängstlich um den Fuchs aus Washington (wie beim Thema Ukraine seit 2005) oder man sendet Stoßgebete gen Himmel, auf dass es Biden beim Konflikt mit China nicht übertreiben möge: Gott steh uns bei …
ebo
11. November 2022 @ 18:04
Doch, es gibt eine außenpolitische EU-Strategie, den sogenannten “strategischen Kompass”. Er wurde sogar kurz nach Beginn des Krieges aktualisiert. Doch er beschreibt vor allem die Lage und zielt auf neue Kompetenzen und Kapazitäten für die EU. Die europäischen Interessen werden nicht oder nur indirekt formuliert. Das Hauptinteresse – eine schnelle Wiederherstellung dey Friedens in Europa – ist gar kein Thema…
Thomas Damrau
11. November 2022 @ 20:06
@ebo
Danke für den Link. Ich muss zugeben, dass ich mich auf dieser Web-Site etwas verloren fühle – vielleicht habe ich die wesentlichen Aussagen nicht gefunden …
Mein Eindruck: Eine extrem oberflächliche Analyse der anstehenden Herausforderungen. Um dann sofort auf die taktische Ebene zu wechseln. Dazwischen fehlt jede Menge Gehirnschmalz:
– Wie ist die Lage?
– Welche Mitspieler müssen wir berücksichtigen – was sind die Ziele dieser Mitspieler? Vor welche Herausforderungen stellen uns diese Mitspieler?
– Was sind realistische Ziele für uns?
– Wie können wir diese Ziele erreichen? Welche alternativen Strategien gibt es? Welche ist die erfolgversprechendste Strategie?
… und dann kann man sich Gedanken darüber machen, wie viele Soldaten man als schnelle Eingreiftruppe braucht. Ansonsten hängen solche Überlegungen in der Luft.
Für so etwas gibt es normalerweise kein Risiko-Kapital: Aber wir EU-Bürger dürfen ja leider nicht darüber abstimmen, worin wir investieren wollen.
KK
11. November 2022 @ 03:32
@ ebo, #2:
“Die EU Kommission wurde eigentlich dafür geschaffen, das europäische Interesse zu formulieren und eine eigenständige EU Politik zu machen”
Ja, die deutsche Regierung hat auch einen Amtseid auf die Interessen des deutschen Volkes geleistet.
Aber was erleben wir gerade? Den Ausverkauf Deutschlands im Interesse der USA und der ukrainischen Kleptokratie.
KK
11. November 2022 @ 03:28
@ ebo:
„Dennoch werde ich jetzt öfter versuchen, die europäischen Interessen zu formulieren“
Danke schon mal fürs Formulieren –
jetzt brauchen wir nur noch ein paar mutige Freiwillige, die sie der Kommission und dem Rat (das Parlament können wir uns schenken, das hat eh nix zu kamellen) – gegen den zu erwartenden Widerstand der USA – einbleuen :-)))
Thomas Damrau
10. November 2022 @ 19:30
Woher sollte eine eigenständige EU-Politik kommen?
– Das EU-Parlament kann zwar hier und dort eine Gesetzinitiative lostreten – Politik definieren kann es nicht.
-Die EU-Kommission (insbesondere vdL) wurde von den nationalen Regierungs-ChefInnen ins Amt gehieft und ist deshalbe notorisch abhängig von deren Wohlwollen.
– Die nationalen Regierungen sind sich uneinig: Von Polen (das sich seit Jahren an die USA anbiedert) über Deutschland (das sich nicht zu einer eigenständigen Außenpolitik durchringen kann – schon gar nicht mit der augenblicklichen Außenministerin) zu Ungarn (das gerne bei der EU und Russland gleichzeitig Vorteile sucht).
Folglich: Eigenständiges europäisches Denken wären wünschenswert, aber ….
ebo
10. November 2022 @ 20:13
Leider wahr. Aber : Die EU Kommission wurde eigentlich dafür geschaffen, das europäische Interesse zu formulieren und eine eigenständige EU Politik zu machen. Unter Juncker ist das einigermaßen gelungen. Seit von der Leyen ist es damit vorbei…
ebo
10. November 2022 @ 20:13
Dennoch werde ich jetzt öfter versuchen, die europäischen Interessen zu formulieren
Kleopatra
11. November 2022 @ 08:25
Das Parlament hat nicht das Recht, Rechtsakte vorzuschlagen; es gibt zwar m.W. so etwas wie ein “Gentlemen’s agreement” mit der Kommission, dass diese auf eine einschlägige Bitte des Parlaments hin eine solche Initiative vorlegen will, aber ein Anspruch des Parlaments existiert gerade nicht. Und selbst wenn mehr Abgeordnete gegen als für eine Initiative der Kommission sind, können sie übergangen werden, wenn sie für ihre Meinung keine Mehrheit der Mitglieder des Parlaments zusammenbekommen.
Anders als etwa der Deutsche Bundestag kann also das Europäische Parlament kein Gesetz aus eigener Initiative beschließen; es kann nur Vorschläge der Kommission modifizieren oder ablehnen, und das nur, wenn die Mehrheit seiner Mitglieder sich auf eine Variante einigen. (Wirklich mächtig ist der Rat, denn er muss den meisten Rechtsakten zustimmen).
Die Frage, was das “europäische Interesse” ist, ist extrem schwierig zu beantworten. Die starke Stellung der Kommission ergibt sich ja ursprünglich daraus, dass die meisten Entscheidungen als Ausführung der Verträge angesehen wurden (Merksatz: die Kommission ist die “Hüterin der Verträge”, während die Mitgliedstaaten die “souveränen Herren der Verträge” sind – tatsächlich können die Mitgliedstaaten die Verträge beliebig ändern, ohne das Parlament oder die Kommission um Zustimmung zu bitten). Ein “Interesse” Europas hingegen ist nicht einfach oder eindeutig zu definieren. Eine von den USA möglichst unabhängige Außenpolitik würde zum Beispiel eine möglichst starke einheitliche EU-Armee voraussetzen, was weder in Deutschland (Verteidigungsbudget) noch in Frankreich (Unterordnung der französischen Atomwaffen unter ein EU-Kommando?) einfach zustimmungsfähig wäre. Und wie stellen wir uns eine europäische Meinungsbildung zu Themen wie Abtreibung oder Atomenergie vor? Das Funktionieren der EU scheint mir zu einem guten Teil darauf zu beruhen, dass in vielen Dingen die Mitgliedstaaten jeweils unabhängig ihr Ding machen. Wollte man eine einheitliche Linie beschließen und durchsetzen, würde das jegliche Begeisterung für die EU killen. Wie würden sich deutsche Grüne stellen, wenn sie zwischen Atomenergie und dem Austritt aus der EU wählen müssten?
ebo
11. November 2022 @ 10:00
Alles richtig. Aber es gibt zwei wichtige neue Entwicklungen:
1. Die EU-Kommission reißt immer mehr Kompetenzen an sich – in der Gesundheitspolitik, in der Verteidigungspolitik, in der Außerwirtschaftspolitik (Sanktionen). Sie darf jetzt sogar Schulden machen und darüber entscheiden, ob und wieviel Geld die Mitgliedstaaten erhalten. Sie wird zur Neben-Regierung, die vom Parlament kaum kontrolliert wird.
2. Die “geopolitische Wende”. Statt um Marktöffnung und Integration geht es jetzt mehr und mehr um Geopolitik und Geoökonomie. Damit werden die souveränen Rechte der Mitgliedsstaaten tangiert – es geht um Krieg und Frieden, Handel mit China, ja sogar um die Existenz oder Abwicklung von Wirtschaftsmodellen wie in Deutschland.
Vor diesem Hintergrund können wir uns nicht mit der Hoffnung begnügen, die EU als Kompromissmaschine werde schon für einen gerechten Interessenausgleich sorgen. Das europäische Interesse wird zum Problem – vor allem da, wo es widerstreitende Interessen gibt. Genau deshalb spreche ich dieses Thema hier im Blog an.
Kleopatra
11. November 2022 @ 15:38
@ebo:
1) Ja. Kontrollieren kann das Parlament die Kommission auch kaum, weil es sie nur mit Zweidrittelmehrheit absetzen kann. Ich wollte ja auch v.a. auf den Grund hinaus, weshalb die Kommission so mächtig ist: weil sie eigentlich nur technische bis schiedsrichterliche Aufgaben erfüllen sollte; insofern ist die immer zitierte Analogie mit den Regierungen falsch gewählt.
2) Hier beginnt das Gebiet, wo die einzelnen Mitgliedstaaten sehr unterschiedliche Interessen haben. Der Versuch, ein “europäisches” Interesse zu definieren, hat wenig Aussicht auf Erfolg. Im Grund liegt ein ähnliche Voraussetzung vor wie bei der Gründung eines Nationalstaates: Man will einen Nationalstaat gründen und definiert danach ein nationales Interesse. Aber wollen die Bürger der EU einen “europäischen Nationalstaat” gründen?