Spricht Merkel für die EU – oder nur über sie?
Die Kanzlerin lässt die europäischen Partner über ihre außenpolitischen Absichten im Unklaren, der britische Premier Johnson stellt den Brexit-Deal infrage – und Kommissionschefin von der Leyen fordert mehr Ehrgeiz im Klimaschutz: Die Watchlist Europa vom 8. September 2020.
Kanzlerin Merkel lässt sich gern als große EUropäerin feiern. Nach der Einigung auf das neue EU-Budget und den Corona-Hilfsfonds im Juli erntete sie die Lorbeeren – und nicht Frankreichs Präsident Macron, der Merkel überhaupt erst auf Solidaritätskurs gebracht hatte. Dabei hat die CDU-Politikerin seit jeher ein taktisches Verhältnis zur EU. Solange es irgend geht, verfolgt sie ihre eigene Agenda – vor allem in der Außenpolitik. Zu Russlands Zar Putin pflegte Merkel ebenso ein Sonderverhältnis wie zu Sultan Erdogan oder zur chinesischen KP.
Doch nun, da Deutschland den Ratsvorsitz innehat und alle drei Länder großen Ärger machen, wird das zu einem ernsten Problem. Merkel vertritt nicht die Interessen der EU, sondern tut so, als könne sie zwischen den 27 und den Problemstaaten vermitteln.
- Beispiel Russland: Jahrelang wurde die umstrittene Gaspipeline Nord Stream 2 an der EU (und am Europarecht) vorbei vorangetrieben. Nun versucht Merkel, Nord Stream zu retten – und stattdessen die EU für Sanktionen gegen Russland einzuspannen. Brüssel soll strafen, Berlin will weiterbauen.
- Beispiel China: Jahrelang setzte Merkel auf das “Reich der Mitte” und flog mit ihrem gesamten Kabinett zu “Regierungskonsultationen” nach Peking. Nun soll es einen EU-China-Gipfel geben – aber in Deutschland, zu deutschen Konditionen. Brüssel darf nur die Hürden aus dem Weg räumen.
- Beispiel Türkei: Schon der Flüchtlingsdeal wurde an der EU vorbei eingefädelt, dafür hat Merkel 2016 sogar Ex-Ratspräsident Tusk ausgebootet. Nun schaut sie zu, wie Erdogan Griechenland, Zypern und Frankreich bedroht – und tut so, als könne sie zwischen Brüssel und Ankara vermitteln.
Es ist, als stünde Deutschland über der EU – mit Merkel mal als Vorreiterin, mal als Vermittlerin. In normalen, friedlichen Zeiten mag das noch angehen. Die “Macht in der Mitte” (H. Münkler) weist sich gern die gute Rolle zu – nach dem Motto: Wir können mit allen, uns kann keiner.
Doch es sind keine normalen Zeiten, es geht wieder um Krieg und Frieden. Zudem hat Deutschland den Ratsvorsitz. Merkel müsste also für die Union sprechen – und Griechenland, Zypern und Frankreich gegen die Türkei unterstützen, oder Polen und das Baltikum gegen Russland.
Wenn sie dies verweigert und die EU nur für ihre Zwecke einspannt, könnte das fatale Folgen haben. In Griechenland baut sich schon ein gewaltiger Groll gegen den deutschen EU-Vorsitz auf. Auch in Zypern und Frankreich wächst das Unverständnis für den deutschen Kurs.
Nicht auszudenken, wenn es im Mittelmeer zu einem Krieg kommt…
Siehe auch “Vergiftete Beziehungen”
Watchlist
Werden die Verhandlungen mit Großbritannien vorzeitig abgebrochen? Diese Frage stellt man sich in Brüssel vor der nächsten Brexit-Runde, die am Dienstag in London beginnt. Hintergrund ist der Plan von Premier Johnson, ein „Binnenmarktgesetz“ einzubringen, das den Austrittsvertrag aushebeln könnte. In diesem Fall gebe es keine Grundlage mehr für Gespräche, warnt der linke Europaabgeordnete M. Schirdewan. – Mehr hier
Was fehlt
Die neue Ansage aus Brüssel zum Klimaschutz. In der kommenden Woche will Kommissionschefin von der Leyen angeblich eine deutliche Verschärfung des Klimaziels für 2030 vorschlagen: Statt um 40 Prozent sollen die Treibhausgase in der EU um 55 Prozent unter den Wert von 1990 sinken, wie die „FAZ“ meldet. Der deutschen Industrie geht das zu weit, für viele Europaabgeordnete ist es noch nicht genug.
Das Letzte
Während der russische Oppositionelle Nawalny in Berlin aus dem Koma erwacht ist, hat in London die Verhandlung gegen Wikileaks-Gründer Assange begonnen – und dort fürchtet man um sein Leben. “Retten Sie Julians Leben“, appellierte Assanges Partnerin S. Moris an den britischen Premier Johnson. Eine Auslieferung in die USA werde Assange nicht überleben. Doch Johnson antwortete nicht – ebenso wenig wie die EU…
Michael Josef Rittel
10. September 2020 @ 06:37
Frau Merkels Stern hat deutlich an Leuchtkraft verloren! Ich habe den Eindruck, dass in Deutschland & Europa lieber nach Gründen gesucht wird, etwas nicht zu tun, anstatt nach Gründen zu suchen, etwas zu tun!
asisi1
8. September 2020 @ 09:21
Den einzigen Plan den Merkel und Konsorten haben, ist Deutschland den größtmöglichen Schaden zuzufügen!
Peter Nemschak
8. September 2020 @ 12:06
Hängt davon ab, wie man den größtmöglichen Nutzen definiert.
Peter Nemschak
7. September 2020 @ 19:19
Verständlich dass das größte und wirtschaftliche stärkste Mitgliedsland meint, was gut für Deutschland ist, ist auch gut für die EU, frei nach – What is good for General Motors is good for the USA. Der deutsche Vorsitz wird nicht ewig dauern, Merkel und ihr Nachfolger (in) werden sich danach nicht ändern.
Holly01
7. September 2020 @ 17:14
Merkel ist der verlängerte Arm der US Politik.
Die Amis spielen gerne alle gegen jeden aus.
Darum kritisiert die auch niemand offen, weil die immer mit dem Daumen über die Schulter weist.
North Steam II ist eine ganz sonderbare Ausnahme.
Das ist so ein Zusammenschluss von Frankreich, Niederlande und Deutschland, wo die Mutti wohl dachte der Ami winkt das durch.
Wäre unter Clinton wohl auch so gewesen, aber da saß die auf dem falschen Pferd und das hängt ihr nun 4 Jahre nach.
Im Moment spielt die auf Zeit.
Einerseits nicht absagen, andererseits nicht fertig bauen.
Die pro und contra Stimmen immer schön orchestrieren und dann wenn sie weiß, wo der kleinere Schaden ist, fügt sie sich wie immer in ihr „Schicksal“.
Die Türkei hat nach dem DoppelWK einen miesen Zustand in der Nachbarschaft zu Griechenland hingelegt bekommen.
So lange das nur Fischgrund war, war das ärgerlich.
Jetzt ist da Rohstoffgebiet und beide Länder gehen so am Stock, das sie in der Gefahr schweben, zu EU Armenhäusern, wie Bulgarien oder Rumänien abzusteigen.
Da wird das spannend.
Wenn der Erdogan, das als Energieprojekt mit den Franzosen als Partner macht und das wirtschaftlich zusammen mit Griechenland betreibt, also beide fördern, ginge das auf.
Aber das will der Ami nicht.
Darum sucht auch die Türkei und nicht Griechenland, darum ist auch die EU so still.
Noch gibt es ja keine konkreten Vorkommen. Nur sehr viel hätte hätte Fahrradkette.
vlg
ebo
7. September 2020 @ 17:45
In den drei genannten Ländern kann ich nicht erkennen, dass Merkel den USA folgen würde. Es war doch wohl eher so, dass sie sich auf den Schutz der USA verlassen hat um ihr eigenes Ding zu machen. Doch das geht nun auch nicht mehr.
Holly01
7. September 2020 @ 18:24
Das geht auf das Hegemoniekonzept zurück.
Das haben die USA von den Briten übernommen.
Das hat grob 4 Komponenten die Deutschland betreffen.
Churchill hat das Mal ganz nett gesagt, also sinngemäß. Sie hätten vielleicht das falsche Schwein geschlachtet (Deutschland DoppelWK), es wäre wohl besser gewesen Russland zu zerschlagen. Aber Deutschland hat den Briten nicht den Anteil geleistet, der den Briten zustand (als damalige Hegemonialmacht).
Also was haben wir?
Der Hegemon macht so viel Wirbel und Streit, das kein Projekt und keine Handelsbeziehung ohne sein Segen funktioniert.
Kontrolle und Einnahmequelle ist immer die hegemoniale Währung.
Da werden Zinsen gezahlt und Abhängigkeiten erzwungen.
Es ist wichtig den Streit überall zu erhalten, denn nur so zahlen alle brav dem Hegemon sein Schutzgeld, das ohne Hegemon gar nicht nötig wäre.
North Stream II umgeht jetzt dieses System. Es wäre kein Dollargeschäft. Es wurde den Hegemon ausschließen. Das könnte man kompensieren.
Aber. Es gibt diese alte Doktrin das Eurasien nie zusammen wachsen darf, weil das den Hegemon ausschalten würde.
Also haben die USA nach dem kalten Krieg alle Länder in die EU gezogen.
Das blockiert die EU.
Dann hat man die intermare Staaten als alte Idee reaktiviert.
Grob: Die Staaten zwischen Deutschlan/Österreich und Russland müssen stark sein, damit sie eigenständig bleiben können. Das bedingt eine Schutzmacht (der Hegemon), weil das ja eine Zweifrontensituation ist. (Zweifrontensituationen sind hegemoniale Standardsituationen, darum macht man das ja).
North Steam II umgeht die intermare Staaten und entzieht ihnen die Einnahmen.
Diese Einnahmen würden die USA abgreifen. Schutzgeld nur mit anderem Namen.
Es laufen auch Züge von China direkt bis nach Madrid. Der Hegemon ist eine Seemacht. Auf See kann man Embargo aussprechen und durchsetzen.
Da wächst auch zusammen, was man nicht will.
Das entzieht ja Volumen aus dem Dollarraum. Also entgehen den USA Einnahmen und Einfluss und Blockademöglichkeiten.
Über die intermare Staaten und diese panslawische Geschichte gäbe es gute Möglichkeiten der Blockade und der Mittelbeschaffung.
Das gefällt den Mitteleuropäern gar nicht.
Also der Versuch eines Präzedenzfalls mit North Steam II.
Strom aus Afrika hat nicht geklappt.
Mittelmeer Offensive von Italien und Frankreich auch nicht.
Europa braucht aber Rohstoffe und physische Handelspartner (außer Waffen).
Das ist nicht der Hegemon.
Der legt nur alle Wege zu und verlangt sein Schutzgeld.
Das ist der Streit in den USA. Volumen des Welthandels oder Krieg und direkten Zugriff auf Europa und China und damit auf Billionenwerte.
Tja. Das hat wenig mit Trump zu tun.
Der Hegemon ist am Rand seiner Möglichkeiten und steht mit seinem Geldsystem am Abgrund.
Ein verschuldeter Hegemon, der Zinszahler statt Zinsempfänger ist, ist nicht lange Hegemon.
Es ist also absehbar was passiert. Aber keiner will das Schwein sein das geschlachtet wird……
vlg
Holly01
8. September 2020 @ 07:58
Ja. Selbst als narzisstischer Deutscher ist mir klar, bei der „Neuordnung“ Europa sind primär die Österreicher unter die Räder gekommen und die Polen wurden schwerst herumgeschubst und verraten und die Russ hat einen extrem hohen Blutzoll dafür gezahlt, die Deutschen und die Österreicher los zu werden.
Die Russ macht da aber auch überhaupt nichts positives draus ….
Ein Geschenk (selbst wenn es von Danaer kommt) nicht zu nutzen ist schlicht dumm.
Ist eben immer die ego-Perspektive. Entschuldigung.
vlg