Spitzenkandidaten: Merkels System wankt

Diesen Satz haben Sie vermutlich noch nie in einer deutschen Zeitung gelesen. Dabei ist er das bisher deutlichste Signal, dass die Günstlings-Wirtschaft, wie sie Kanzlerin Merkel in der EU praktiziert, an Grenzen stößt.

Hier ist das Zitat. Es stammt von dem Belgier G. Verhofstadt, der die Liberalen-Fraktion im Europaparlament leitet. Gedruckt wurde es in der Zeitung „Ouest-France“, deshalb bringe ich auch das französische Original:

Cela reste un système où c’est madame Merkel qui décide qui est le prochain président de la Commission.

Das bleibt ein System, in dem Frau Merkel entscheidet, wer der nächste Präsident der EU-Kommission wird.

Die Rede ist von den Spitzenkandidaten. Bisher war auch Verhofstadt dafür. Doch nun rückt er von dem System ab – weil nur noch die konservative Europäische Volkspartei, also CDU und CSU, also Merkel, das Sagen haben.

Nur die EVP kann sich noch berechtigte Hoffnung machen, bei der Europawahl 2019 vorn zu liegen. Und nur in Deutschland kann man Merkels Kandidat Weber wählen. Denn die EVP hat EU-weite Listen verhindert.

Damit habe sie das System der Spitzenkandidaten kaputt gemacht, so Verhofstadt. Er strebt nun eine gemeinsame Liste mit Frankreichs Präsident Macron an. Es ist eine Kampfansage an die Spitzenkandidaten – und an die Kanzlerin.

Merkels System zerfällt, denn neben den Liberalen setzen sich auch die Sozialdemokraten immer mehr ab. Der SPD-Europaabgeordnete Geier denkt schon über eine neues, progressives Bündnis im EU-Parlament nach.

Doch in Berlin hat man es noch nicht gemerkt…O der sollten wir zynisch werden und annehmen, dass Merkel die Zeichen der Zeit sehr wohl erkannt hat  – und CSU-Mann Weber ins offene Messer laufen lässt?

WATCHLIST: Das Europaparlament ist zur Bühne für die Staats- und Regierungschefs geworden. Am Dienstag kommen gleich zwei nach Straßburg: Griechenlands Tsipras und Ungarns Orban. Tsipras will den Ausstieg aus dem 3. Bailout feiern, obwohl es nichts zu feiern gibt. Und Orban will um seine Freunde in der EVP werben, um einem Strafverfahren gegen Ungarn zu entgehen.

WAS FEHLT: Hilfe für die Flüchtlinge in der Ägäis. Inzwischen seien dort mehr als 20 000 Menschen untergebracht, teilte das Migrationsministerium in Athen mit. Die Lager auf den Inseln Lesbos, Chios, Samos, Leros und Kos haben aber nur eine Aufnahmekapazität für 6338 Menschen. Am schlimmsten ist die Lage im Lager von Moria auf Lesbos – nun droht die Schließung.