Merkels sieben Sünden, Teil 7: Der Preis des Pragmatismus

Wie fällt die Bilanz von Kanzlerin Merkel in der Europapolitik aus? Die Erfolge werden breit gewürdigt – wir wollen uns daher auf die Misserfolge und Sünden konzentrieren. Teil 7 und Schluß: Der Preis des Pragmatismus.

Wohin geht die Reise in Europa? Diese Frage ist nicht nur im Bundestagswahlkampf offen geblieben. Auch die wichtigste und erfahrenste Politikerin der EU, Kanzlerin Angela Merkel, blieb eine Antwort schuldig.

Kein Wunder, sie war ja vollauf mit dem Krisenmanagement beschäftigt – und das hat sie sehr gut gemacht, heißt es in Brüssel.

Dabei war die Kanzlerin dafür verantwortlich, dass die Krisen länger dauerten und teurer wurden als nötig. In Griechenland, bei den Flüchtlingen und zuletzt auch bei Corona.

Sie setzte zuerst auf nationale Antworten und täuschte eine “europäische Lösung” oft nur vor. Selbst nach dem Brexit 2016 hat sie ihren Kurs nicht korrigiert.

Als Frankreichs Präsident Emmanuel Macron dann 2017 seine berühmte Sorbonne-Rede hielt, um gemeinsam mit Merkel eine “Renaissance” einzuleiten, zeigte ihm die Kanzlerin die kalte Schulter.

Wieder war die Nation wichtiger als eine europäische Vision. Wieder wurde Pragmatismus groß und strategisches Denken klein geschrieben. Dabei ist eine Neubestimmung überfällig. Dies zeigt ein Blick zurück.

Als Merkel an die Macht kam, war Deutschland noch dem Verfassungsvertrag verpflichtet, die EU sollte zu einer Föderation ausgebaut werden. Von Kohl hatte sie zudem den Auftrag geerbt, eine “Politische Union” aufzubauen, um die Währungsunion zu “vollenden”.

Doch nichts davon wurde umgesetzt. Merkel hat zwar den Lissabon-Vertrag entwickelt, der das Ziel einer “immer engeren Union” festschreibt. Doch sie handelte nicht danach, die EU-Staaten driften auseinander, die “Politische Union” ist heute ferner als vor 20 Jahren.

Europa ist deutscher geworden, aber Deutschland nicht europäischer, wie der Wahlkampf zeigt. Die EU hat neue Institutionen bekommen, mit vielen deutschen Chefs und sogar einer deutschen Chefin – doch deshalb funktioniert sie nicht besser, wie die Coronakrise beweist.

Verwalterin des Status Quo

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Merkel hat nie gesagt, wo das alles hinführen soll, sie war eine Verwalterin des Status Quo. Sie hat keine Orientierung gegeben, sie hat keinen Plan entworfen, sie schreibt sich nicht in eine “große Erzählung” von Europa und seiner Zukunft ein.

Wenn überhaupt, dann hat sie ihren Kurs negativ erklärt. “Wenn der Euro scheitert, dann scheitert Europa”, war lange der wichtigste Merkel-Spruch. Motivierend war das nicht, im Gegenteil: Es erweckte den Eindruck, dass die EU permanent am Abgrund steht.

Doch warum Europa nicht scheitern darf, das hat Merkel nicht erklärt. Dass Deutschland von der EU und vom Euro überdurchschnittlich profitiert, und dass mit deutscher Führung auch mehr Verantwortung und höhere Kosten verbunden sind – kein Wort dazu.

„Sie hatte die Chance die Deutschen zu überzeugen, dass jetzt die Eurozone fit gemacht werden muss für das 21. Jahrhundert, sie hat sie nicht genutzt. Es war einer dieser Moment an dem die (deutsche) Kanzlerin außergewöhnliche Macht hatte zu führen, doch sie hat diese Chance verstreichen lassen und ließ zu, dass sich das Narrativ vom faulen, korrupten Süden, der den tugendhaften Norden ausbeutet, in der deutschen öffentlichen Meinung und Politik etabliert.“

Timothy Garton Ash, zit. nach Hauptstadtbrief vom 19.09.21

Der Preis der Merkel-Ära

Merkel ist auf Sicht gefahren, ohne Vision für die Nation und für Europa.1 Ihre Nachfolger werden sich das nicht mehr leisten können. Sie werden erklären müssen, wo die Reise hingehen soll – und sie werden noch höhere Kosten stemmen müssen.

Denn der Preis der Merkel-Ära und ihrer Versäumnisse, das ist jetzt schon klar, wird hoch – auch für Deutschland. Die allzu pragmatische Kanzlerin hat so viele Baustellen und Hypotheken hinterlassen, dass wir noch 2050 an sie denken werden.

Und das nicht nur in der Klimapolitik…2

Ende der Serie. Teil 1 steht hier. Mehr zu Merkel hier

Anmerkungen

1 Siehe auch Navid Kermani: « Il est quasiment impossible d’associer Angela Merkel à une conviction ou à un programme qui aille au-delà du pragmatisme », Le Monde

2 Bis 2050 soll die EU klimaneutral werden. Bis 2050 und darüber hinaus wird auch die Rückzahlung der Schulden aus dem Corona-Aufbauprogramm dauern, wenn es bei dem von Merkel vorgesehenen Finanzierungs-Modell bleibt. Griechenland muß sogar bis 2070 warten, bis es die Schulden aus den von Berlin diktierten “Rettungs”-Programmen tilgen kann. Siehe auch den Leitartikel im “Economist”: The mess Merkel leaves behind