Merkels sieben Sünden – Teil 2: Die marktkonforme Demokratie

Wie fällt die Bilanz von Kanzlerin Merkel in der Europapolitik aus? Die Erfolge werden breit gewürdigt – wir wollen uns daher auf die Misserfolge und Sünden konzentrieren. Teil 2: Die marktkonforme Demokratie.

Die EU versteht sich als Wertegemeinschaft, Demokratie und Rechtsstaat werden mehr denn je betont. Doch ausgerechnet die lange Zeit mächtigste EU-Politikerin, Kanzlerin Angela Merkel, hatte ein Problem mit der Demokratie.

Das begann schon kurz nach ihrem Amtsbeginn: Merkel stand unter deutscher Ratspräsidentschaft 2007 vor der schwierigen Aufgabe, die EU nach dem „Nein“ zum Verfassungsvertrag in Frankreich und den Niederlanden neu aufzustellen.

Sie wählte einen demokratietheoretisch problematischen Weg: Der Kern der gescheiterten Verfassung wurde in einen anderen Text überführt und – nach ein paar kosmetischen Änderungen – kurzerhand zum neuen EU-Vertrag erklärt.

Die wirtschaftsliberalen Teile, gegen die sich vor allem die Franzosen aufgelehnt hatten, blieben erhalten. Nur die Symbolik, die die erste EU-Verfassung schmücken sollte, fiel dem Widerstand aus Paris und Den Haag zum Opfer.

Für Berlin und Brüssel war dies gut, für die europäische Demokratie weniger. Mit dem heute noch gültigen Lissabon-Vertrag, der 2009 in Kraft trat, sind Franzosen und Niederländer nie warm geworden.

Dieser Vertrag schreibt nicht nur die „Errichtung eines Binnenmarkts mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb vor. Er hat auch die (mittlerweile ausgesetzten) Maastricht-Kriterien für die Finanzpolitik festgeschrieben.

So wurde der Markt wichtiger als die Demokratie – und die Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden wurden annuliert. Dies ist auch der Grund, weshalb die EU Vertragsänderungen scheut – besonders, wenn sie mit Referenden verbunden sind…

Sündenfall Eurokrise

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Der zweite Sündenfall kam während der Eurokrise. Merkel zwang Griechenland, auf ein zunächst geplantes Referendum zum Spardiktat der Eurogruppe zu verzichten1, und erklärte ihren Kurs für alternativlos. Auch die Parlamente sollten daran nichts mehr ändern.

Es gehe darum, die Entscheidungen zur Währungsunion bei aller gebotenen „parlamentarischer Mitbestimmung so (zu) gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist„, erklärte die Kanzlerin, als ein paar Jahre später auch noch Portugal in die Krise rutschte.2

Damit hat sie nicht nur die parlamentarische Demokratie auf den Kopf gestellt: Sie sollte fortan den Vorgaben der EU-Krisengipfel und den Launen der Märkte folgen – der Souverän wurde entmachtet, die Parlamente wurden ausgebootet.

Nein, Merkels neoliberale Doktrin legte auch den Grundstein für den neuen Populismus und Nationalismus in vielen EU-Ländern, Deutschland eingeschlossen. Die „Alternative für Deutschland“ hätte es ohne den Crash-Kurs der Kanzlerin nicht gegeben.

Die entwertete Europawahl

Das dritte Beispiel für Merkels problematisches Demokratieverständnis ist ihr Umgang mit der Europawahl. Erst (2014) wollte sie sich nicht mit dem Prinzip der Spitzenkandidaten abfinden, dann (2019) hat sie ihren eigenen Spitzenkandidaten – Manfred Weber – kurzerhand fallen lassen.

Im Ergebnis haben wir nun eine Kommissionspräsidentin, die sich nie den Wählern gestellt hat und gegen den Willen des Europaparlaments durchgeboxt wurde – von den Staats- und Regierungschefs, die nach Merkels Auffassung allein die EU-Geschicke bestimmen sollen.

Brüssel versucht nun zwar, wieder bei den Bürger anzubändeln – etwa mit der Konferenz zur Zukunft der EU. Doch damit wird sich der Schaden kaum wieder gutmachen lassen. Und wer von einer neuen, demokratischen Verfassung träumt, dürfte enttäuscht werden.

Die EU hat sich – trotz aller Versuche, sich (wieder) bürgernah zu geben, in der marktkonformen „Post-Demokratie“ eingerichtet3. Auch das gehört zu Merkels Erbe…

Teil 1 der Serie über die europapolitischen Sünden steht hier, Teil 3 hier. Mehr zu Merkel hier

P.S. Nicht nur die Demokratie, auch der Rechtsstaat hat in der Merkel-Ära gelitten. Kritiker beschuldigen die Kanzlerin sogar, mit dafür verantwortlich zu sein, dass in Ungarn eine „illiberale Demokratie“ und ein korrupter Unrechtsstaat aufgebaut wurde. Die guten deutschen Geschäfte mit Ungarn waren wohl wichtiger als die europäischen Grundwerte. Merkel legte auch großen Wert darauf, die konservative Europäische Volkspartei auf Kurs zu halten. Ohne Ungarns Premier Orban und seine Fidesz-Partei, so glaubte sie wohl, sei das nicht möglich. So trug die Kanzlerin auch zur Spaltung der EVP bei, die innerparteiliche Demokratie hat gelitten…

Literaturhinweise

1 A. Tooze: Crashed, Penguin 2019, p. 410

2 H. Brunkhorst: Europa am Abgrund – Zwölf Jahre Merkel, Blätter für deutsche und internationale Politik Juli 2017

3 C. Crouch: Post-Demokratie, Suhrkamp 2008 / 2020

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