Merkels sieben europapolitische Sünden – Teil 1: Die verschleppten Krisen

Wie fällt die Bilanz von Kanzlerin Merkel in der Europapolitik aus? Die Erfolge wurden und werden breit gewürdigt – wir wollen uns daher auf die Misserfolge und Sünden konzentrieren. Teil 1: Die verschleppten Krisen.

In Deutschland gilt Angela Merkel als erfolgreiche Krisenmanagerin – zu Recht, denn sie hat ihr Land gut durch alle möglichen Turbulenzen geführt. Deutschland ist sogar gestärkt aus den vielen Krisen hervorgegangen, zumindest bis vor kurzem.

Doch für die EU (und speziell für Südeuropa) sieht die Bilanz völlig anders aus. Merkel hat die „Polykrise“ (so Ex-Kommissionschef Jean-Claude Juncker) nicht gelöst, sondern verschleppt und teilweise sogar unnötig verschärft.

In der Bankenkrise weigerte sie sich, zusammen mit Frankreich eine EU-weite Lösung zu finden. „Jeder macht seinen eigenen Scheiß“, schimpfte der damalige französische Staatschef Nicolas Sarkozy.1

Die Griechenland-Krise hat sie durch Zuwarten (es standen Wahlen in NRW an) verschlimmert und jahrelang nicht gelöst. Als es dann 2015 zum Eklat kam, drohte sie dem Land mit Rauswurf – damals setzte sie den Bestand der EU aufs Spiel.

Auch die Flüchtlingskrise wäre ohne Merkel so nicht denkbar. Rund zehn Jahre lang ignorierte sie die Migrations-Probleme in Südeuropa – laut Dublin-Abkommen sei Deutschland dafür nicht zuständig. Solidarität? Fehlanzeige!

Als die Welle dann 2015 überschwappte, entschied sie im Alleingang, die Flüchtlinge aufzunehmen – ohne Rücksicht auf die Folgen. Ebenfalls im Alleingang schloß sie den Türkei-Deal, der die EU von Sultan Erdogan abhängig machte.

In der Coronakrise galt „Germany first“, sogar die Grenze zu Frankreich wurde dicht gemacht. Die Rettung kam nicht etwa aus Berlin, sondern aus Paris – Präsident Macron baute Merkel eine goldene Brücke, nachdem sie wochenlang blockiert hatte.

Klar, am Ende haben alle EU-Staaten zugestimmt, und niemand ist aus der Union herausgeflogen. Merkel hat den Laden zusammengehalten, wie es oft heißt. Doch „gerettet“ hat sie die EU nicht, wie Juncker richtig anmerkt.

Im Gegenteil: Die Kanzlerin hat viele, für die EU zuträglichere Lösungen abgelehnt und am Ende immer das durchgeboxt, was Deutschland am besten in den Kram passte.

So wurde die Bankenunion verwässert, EU-Anleihen („Eurobonds“) wurden erst in höchster Not 2020 eingeführt. Hätte man beides schon 2012, auf dem Höhepunkt der Eurokrise, erledigt, stünde die EU heute wesentlich besser da.

Woran liegt das? Merkel hat sich doch so gut in die Materie eingearbeitet, alle schätzen ihre Kompetenz und ihre Kompromissbereitschaft. Manche nennen sie gar „Königin von Europa“ oder „Führerin der freien Welt“.2

Unionsmethode statt Gemeinschaft

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Nun, ein Grund liegt in der „Methode Merkel“ – Krisen immer so lange auszusitzen, bis es nicht mehr geht und in letzter Sekunde eine Notlösung her muss, die Berlin dann diktieren kann. Sogar mit den Ministerpräsidenten hat sie es gehalten!

Ein weiterer Grund liegt in der „Unionsmethode“ – also der Zusammenarbeit der EU-Staaten, die Merkel der „Gemeinschaftsmethode“ – der Lösungssuche in Brüssel – vorzog. So wurden Kommission und Parlament geschwächt, Deutschland wurde gestärkt.

Der dritte Grund liegt darin, dass Merkel sich weigerte, die fälligen Integrationssschritte zu gehen. Von Helmut Kohl hatte sie die Währungsunion und die Erweiterung geerbt. Danach wäre die Politische Union fällig gewesen – Merkel unternahm nichts.

Deutschland klebt am Status Quo

Auch die jahrelang geplante „Vollendung der Währungsunion“ ließ sie links liegen. Der Euro ist daher immer noch krisenanfällig.

Merkel wollte selbst dann noch keine Reformen, als Macron sie auf dem Silbertablett präsentierte und der Brexit einen Neustart erforderte.

Der Status Quo sollte erhalten bleiben – denn er war für die deutsche Kanzlerin und ihr Land ja so vorteilhaft…

Teil 2 der Serie steht hier. Mehr zu Merkel hier, zum deutschen Europa hier

Literaturhinweise

1 Mehr dazu in C. Gammelin / R. Löw: Europas Strippenzieher, Econ 2014

2 Siehe etwa R. Alexander: Machtverfall, Siedler 2021

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