Gipfel der Angst – Merkel ohne Mehrheit
Man nennt das wohl nicht intendierte Nebenwirkung. Oder war es doch volle Absicht? Jedenfalls hat Kanzlerin Merkel in der Flüchtlingspolitik genau jenen Dominoeffekt ausgelöst, den sie angeblich verhindern wollte.
Plötzlich wollen sich alle abschotten. Plötzlich sind alle für nationale Maßnahmen. Plötzlich ist Konsens, dass die Flüchtlinge ganz schnell zurück geschickt werden müssen – am besten gleich nach Afrika, Hauptsache weit weg.
So klang es jedenfalls beim Merkel-Krisengipfel am Sonntag in Brüssel, an dem dann doch 16 Staaten teilnahmen, also eine knappe Mehrheit der 28 EU-Mitglieder. Und Merkel fand das toll, sie lobte den “guten Willen”.
Dabei verfolgt dieser “gute Wille” das Gegenteil von dem, was bisher EU-Beschlußlage war. Schutz nach außen, Solidarität nach innen, hieß die Formel. Nun heißt es: jeder schützt sich vor jedem – national, aber “gemeinsam”!
Von Solidarität ist keine Rede mehr, von “wir schaffen das” auch nicht. Merkel hat sich ‘mal wieder selbst entsorgt und zugleich einen europaweiten Dominoeffekt ausgelöst, der den Salvinis und Orbans nachträglich Recht gibt.
Seit dem Merkel-Gipfel können sich die Rechtsausleger und Hardliner bestätigt fühlen. Jetzt ist der Weg frei für radikale und radikalste Maßnahmen – Italien will die Dublin-Regeln beerdigen, Frankreich Internierungslager einrichten.
Bravo! Gegen diesen Coup, der Egoismus und Nationalismus als “europäische Lösung” verkauft und das “Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten” antieuropäisch formatiert, sind Seehofer & Co echte Waisenknaben.
Aber Vorsicht: kein einziges Problem ist gelöst, auch der nächste (offizielle) EU-Gipfel wird keine Lösung bringen. Jetzt strebt man ohnehin keine Beschlüsse mehr an, sondern nur noch “operative Lösungen”, wie es J. Muscat aus Malta formulierte.
Auch Merkel ist noch nicht “gerettet”. Denn die Rücknahmeabkommen, die sie in letzter Minute gegen Seehofer ins Feld führen möchte, kamen bei diesem Gipfel nicht zustande. Und selbst wenn – die CSU will längst mehr, viel mehr…
…genau wie die vielen anderen Parteien und Bewegungen, von denen sich die 16 Staats- und Regierungschefs in Brüssel treiben ließen. Zittern sie nicht längst alle um ihr Amt? War dies nicht in Wahrheit ein Gipfel der Angst?
WATCHLIST:
- Wahl in der Türkei: Wird die EU diese Inszenierung und den vorzeitig selbst ernannten Wahlsieger Erdogan anerkennen? Angesichts von Ausnahmezustand, inhaftierten Oppositionsführern, sog. Blockstimmen und massiver Propaganda pro Erdogan müssten die Europäer eigentlich protestieren. Die OSZE jedenfalls hat die Wahl schon im Vorfeld beanstandet…
WAS FEHLT:
- Eine Mehrheit für die GroKo. Nach einer Umfrage der “Bild am Sonntag” kämen CDUCSUSPD nur noch auf 49 Prozent, AfD und FDP legen zu. Ob das nun am Asylstreit liegt oder an Merkels Rumgeeier, an Seehofer oder an Söder – geschenkt. Fest steht, dass diese Kanzlerin, die ganz EUropa für ihre Zwecke einspannt, zuhause keine eigene Mehrheit mehr hat…
Helga Karim
25. Juni 2018 @ 13:44
Und wieder kein Wort zu den Fluchtursachen. Da könnte ja rauskommen, daß man zum größten Teil schuld ist an der Entwicklung. Der Westen sollte mal aufhören, andere Länder zu überfallen, zu zerstören, weil die sich nicht bedingungslos der westlichen Ausbeutung ihrer Rohstoffe unterwerfen. Die EU könnte aufhören, die Küsten vor Afrika leer zu fischen und mit subventionierten Produkten die Märkte zu zerstören und mit Organisationen wie dem IWF das Elend zu vollenden. Und dann wundern, daß so viele zu uns kommen. Aber bloß die Konzerne und Banken nicht an ihren Geschäften hindern. Zum “Glück” sind die Jemeniten so arm, daß sie nicht fliehen könne und sich von unseren besten Freunden, den Saudis umbringen lassen müssen. Darüber aber kein Wort (oder sehr wenige).
Peter Nemschak
25. Juni 2018 @ 13:23
@ebo Den Pullfaktor Wohlstandsgefälle werden Sie nicht wegbringen. Legale Einwanderungsmöglichkeiten kombiniert mit Abschreckung illegaler Einwanderung können allerdings Druck wegnehmen. Außerdem lässt sich eine wirkungsvolle Abschreckung leichter in der europäischen Öffentlichkeit legitimieren, wenn legale Möglichkeiten bestehen. Langsam dämmert diese Erkenntnis, die vor wenigen Monaten bei manchen auf Abscheu und Widerstand gestoßen ist. Internierungslager sind heute bereits salonfähig. Es gilt, die Erwartungen potentieller Migranten nachhaltig zu ändern. Sie müssen verstehen, dass eine Reise nach Norden ihre Lebenssituation verschlimmert und nicht verbessert. Wer ein Internierungslager ohne Wiederkehr in Libyen vermeiden will, ist gut beraten sich erst gar nicht auf die Reise zu begeben.
Solveig Weise
25. Juni 2018 @ 11:40
“Gipfel der Angst” trifft es sehr gut. Die Europa beherrschende politische Kaste verfällt mehr und mehr in Panik. Die moralische Überheblichkeit mit der Merkel dem Kontinent die Politik offener Grenzen aufzwingen wollte hat in keinster Weise funktioniert. Wahl um Wahl zeigen die Menschen in Europa was sie von jener Politik halten. Die Briten haben sich von Europa abgewandt als sie sahen wie infantil naiv Merkel die Grenzen bedingungslos geöffnet hat. Von Budapest bis nach Warschau, von Prag über Bratislava bis nach Rom haben wir nun Regierungen in harter Opposition gegen Brüssel. Merkels Politik, beklatscht von SPD, Linken und Grünen haben Europa in die tiefste Krise gestürzt. Ein Trauerspiel!
ebo
25. Juni 2018 @ 12:38
Es geht nicht nur um Merkel. Der Umstand, dass 15 andere EU-länder an “ihrem” Gipfel teilgenommen haben, zeigt, dass auch vielen anderen EU-Chefs die Angst im Nacken sitzt. Ich denke z.B. an Frankreich, Belgien und Luxemburg. Offenbar macht man sich auch dort Sorgen, dass entweder die Stimmung im Lande gegen Flüchtlinge umschlägt – oder Merkel die Grenzen dicht macht, was in den genannten Ländern natürlich sofort spürbar wäre.
Peter Nemschak
25. Juni 2018 @ 12:42
Zeigen Sie mir ein EU-Land und eine politische Partei, die vernünftige und vor allem effektive Alternativen auf den Tisch gelegt hat. Alle waren zu feig und haben damit den Rechten das Terrain überlassen. Auch ohne Merkel scheint eine Einigung in Sachen Asyl- und Migrationspolitik in weiter Ferne. Frankreichs und Spaniens Vorschläge zur Unterhaltung von Internierungslagern innerhalb der EU sind wenig durchdacht und kratzen an der Oberfläche. Sind Asylanten erst einmal in der EU, wird man sie schwer los. Ein etwas humaner als die libyschen Lager geführtes europäisches Guantanamo, wie es sich Macron und andere vorstellen, kann doch nicht die Lösung sein. Außerdem wäre es an der Zeit, sich von orientalischen Potentaten unabhängiger zu machen und sich von der Idee von Schutzgeldern zu lösen, die man nordafrikanischen Ländern bezahlt, damit sie im Vorfeld gegen gutes Geld Migranten abfangen, die man durch ein unzweckmäßiges Asylrecht zuerst angelockt hat. Damit eine besser gesicherte Außengrenze ihre Wirkung zeigt, bedarf es zusätzlicher Maßnahmen, welche die Migration nach Norden unattraktiver machen. Man fragt sich, was die Politiker diskutieren, wenn sie zusammenkommen?
ebo
25. Juni 2018 @ 12:58
Das Problem sind nicht die “Außengrenzen”, sondern die Länder, die von außerhalb Europas Flüchtlinge in die EU schicken (Türkei, Libyen) – sowie jene Länder innerhalb der EU, die als Magnet wirken. Lange Zeit war das vor allem Schweden, nun ist es Deutschland. Wegen dieser klar einzugrenzenden Probleme das gesamte EU-Recht auszuhebeln und unmenschliche Lager einzurichten, ist perfide. Die Probleme lösen wird es auch nicht, so lange der “Pullfaktor” weiter besteht. Merkels Alleingang der Jahre 2015/16 wird EUropa noch lange beschäftigen…
Dr. Friedrich Walter
25. Juni 2018 @ 08:39
In Nordafrika gab es schon einmal ein großes, sicheres Auffanglager für Migranten aus dem südlicheren Afrika. Das hieß „Libyen“ und der Chef war ein Herr Muammar al-Gaddafi. Er hatte den Europäern vorausgesagt, was geschehen würde, falls man ihn beseitigt. Nämlich, daß Europa von Millionen von Migranten überschwemmt werde. Deshalb glaubte er, sicher zu sein. Dann aber hat ein Herr Sarkozy aus Europa (genannt: „Westentaschen-Napoleon“) – um von eigenen innenpolitischen Problemen abzulenken – völlig unmotiviert Herrn Gaddafi und sein „Lager“ überfallen lassen, obwohl er kurz vorher noch von Herrn Gaddafi mehrere Millionen US-Dollar Schmiergelder für seinen Wahlkampf angenommen hatte. Später beteiligten sich die USA und Britannien an dem Überfall auf Herrn Gaddafi und töteten ihn (Hillary Clinton dazu fröhlich: „We came, we saw, he died“) . Das war die Ursache der Migrantenströme, die Herr Gaddafi vorausgesagt hatte. Eigenlich müßten Frankreich, die USA und England jetzt alle Migranten aufnehmen, denn sie waren die Urheber. Direkter Auslöser war aber Herr Sarkozy, weshalb Frankreich die Hauptlast in Europa tragen müßte und nicht Deutschland.
Peter Nemschak
25. Juni 2018 @ 10:52
Gaddafi war keine brauchbare Dauerlösung. Wenn man das Asylrecht dahingehend ändert, dass Anträge nicht wie bisher ausschließlich an der Außengrenze sondern im Gegenteil ausschließlich im Herkunftsland gestellt werden können, nimmt man den Anreiz für Wanderbewegungen in Richtung Außengrenze. Die Anträge könnten an zentralen Knotenpunkten der EU in Afrika bearbeitet werden. Wer kein Visum erhält, sollte keine Chance haben die Außengrenze überqueren zu können und wenn doch, dann umgehend zurückgeschickt zu werden. Derzeit sind die Risiken und Anreize falsch verteilt.
Margret Osterfeld
25. Juni 2018 @ 08:06
Das ganze Theater erinnert gewaltig an Evian 1938, vgl. aktuelle ausgäbe der ZEIT Dossier, Geschichte.
Baer
25. Juni 2018 @ 07:40
Parlamentarische Weichlinge,Fraktionszwang etc. Wenn Merkel jemals wirkliche Mehrheiten hatte, dann ist es gut dass die Zeit vorüber ist.Leider hat sie aber alle adäquaten NachfolgerInnen aus dem politischen Umfeld verbannt.Was diese Frau Deutschland und Europa angetan hat stinkt zum Himmel.Allerdings müssen ihre Adlaten in EU auch weg,und das so schnell wie möglich,siehe Juncker u. Co.
Peter Nemschak
25. Juni 2018 @ 07:06
Endlich wachen auch die größten Träumer auf. Offenbar bedurfte es dazu der europäischen Rechten. Das hätte man auch ohne sie schaffen können. Soziologen haben schon 2015 vor der Gefahr einer Anomie unserer Gesellschaften gewarnt. Außengrenzsicherung wird hoffentlich zu einem ernsthaften europäischen Projekt. Flüchtlingslager auf europäischem Boden sind keine gute Idee, weil man sie nicht mehr los wird. Die Entscheidung über Einreisevisa muss vor Ort der Migranten fallen. Sobald die Außensicherung steht und über Migrationsmöglichkeiten nach Europa in den Herkunftsländern entschieden wird, werden sich auch die Flüchtlingslager in Nordafrika erübrigen. Warum nicht gleich?