Machtverfall in Paris, Machtwechsel in London und Orban, der letzte Diplomat?
Die Watchlist EUropa vom 06. Juli 2024 – heute mit der Wochenchronik.
Die Historiker werden diese Woche wohl rot in ihrem Kalender markieren. Gleich zwei Staats- und Regierungschefs haben schlecht vorbereitete und überstürzte Neuwahlen angesetzt – sie sind sehenden Auges in die Katastrophe gelaufen.
Der erste war Frankreichs Präsident Macron. Nach der verlorenen 1. Runde der Parlamentswahl muß er nun seinem Machtverfall zusehen. Immerhin kann „Jupiter“ – so sein Spottname – wohl noch bis 2027 weitermachen, wenn auch wahrscheinlich ohne Mehrheit im Parlament.
Das ganze Ausmaß des Debakels wird sich beim 2. Wahlgang am Sonntag zeigen. Wenn Le Pens Nationalisten die absolute Mehrheit erringen, droht Macron eine „Cohabitation“ mit genau jener Partei, deren Aufstieg er eigentlich verhindern wollte. Dass er sie danach „entzaubern“ kann, ist fraglich.
Scholz blickt nach Osten
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Auf jeden Fall hat Frankreich durch Macrons Harakiri-Wahl schon jetzt spürbar an Einfluß in der EU verloren. In Berlin hat Kanzler Scholz bereits begonnen, sich nach Osten zu wenden – sein Besuch in Warschau könnte der Startschuss für eine neue deutsch-polnische „Achse“ gewesen sein.
Den defekten deutsch-französischen „Motor“ wird sie aber nicht ersetzen können. Nicht nur Frankreich, sondern auch die EU geht geschwächt aus dieser Woche hervor. Die Hoffnung nach der Europawahl, dass „die Mitte hält“ und man weitermachen kann wie bisher hat sich als trügerisch erwiesen.
In Berlin und Brüssel trösten sich manche mit dem Machtwechsel in London, wo die konservativen Tories nach 14 Jahren aus der Regierung verdrängt werden. Doch den Brexit stellt auch der neue Regierungschef Stamer nicht infrage, frische Energie kann die EU aus dem Fall von Sunak nicht saugen.
Im Gegenteil: Beide Ereignisse – der Machtverfall in Paris und der Machtverlust in London – illustrieren die These vom „Meltdown“ der liberalen Demokratie, der sich auch in Washington zeigt. Der altersschwache Präsident Biden klammert sich zwar an die Macht – doch alle wissen: Der König ist nackt!
Was war noch? Die EU ist wütend auf Ungarns Regierungschef Orban, weil dieser nach Kiew und Moskau gereist ist und dabei von einer „Friedensmission“ sprach. Dafür habe er keinerlei Mandat, hieß es in Brüssel. Dass Ungarn derzeit den EU-Ratsvorsitz innehat, mache die Sache nicht besser.
Allerdings sind auch schon andere EU-Ratsvorsitzende auf Reisen gegangen – wie Spaniens Sanchez und Belgiens De Croo in den Nahen Osten, wo sie sogar gemeinsam auftraten. Zudem kann Orban darauf verweisen, dass er der einzige EU-Politiker ist, der noch in Moskau empfangen wird.
In gewisser Hinsicht ist er EUropas letzter Diplomat – denn die eigentlich Zuständigen verweigern ihren Dienst. Schlimmer noch: Der Außenbeauftragte Borrell gab sogar eine Erklärung ab, wonach die EU jeden offiziellen Kontakt zu Putin ausschließe. Bitter – doch wenigstens sind die Dinge nun klar…
Last but not least hat Brüssel wie angekündigt sog. Ausgleichszölle gegen E-Autos aus China verhängt. Dem Vorstoß ging übrigens nicht – wie üblich – eine Beschwerde der Industrie voraus. Im Gegenteil: Die Autohersteller beschweren sich nun über die EU-Kommission, die im Alleingang handelte…
Den Schaden könnten nicht nur VW, BMW & Co. haben – sondern auch die Verbraucher, die gern günstige E-Autos kaufen möchten. Die EU untergräbt ihre eigene Klimastrategie, die auf erschwingliche „grüne“ Produkte setzt – und sie beschwört die Gefahr eines Handelskriegs herauf. Toll!
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Die meistgelesenen Beiträge der Woche:
Neue Sprachregelung: Kiew wird Kyjiv – und verliert trotzdem
Nach der „taz“ haben sich nun auch die „Zeit“ und der „Spiegel“ der offiziellen ukrainischen Sprachregelung angepasst: Kiew wird „Kyjiv“. Um die Wahrheit über das Land zu erfahren, muß man allerdings andere Medien lesen.
Freibrief für Ukraine, Drohung an Georgien
Das neue „Erweiterungs-Paket“ ist da. Die EU-Kommission stellt der Ukraine darin einen Freibrief aus. Georgien hingegen wird mit einem Abbruch der Gespräche gedroht.
Nordkorea und Ukraine: Nato spricht von Eskalation – was steckt dahinter?
Nato-Generalsekretär Rutte behauptet, dass nordkoreanische Truppen nach Russland geschickt wurden. Das sei „eine erhebliche Eskalation“ – doch es fällt schwer, Rutte zu glauben.
european
7. Juli 2024 @ 12:49
Es ist fast schon lustig, wie sich die Journalisten des Wertewestens sich kollektiv echauffieren und aus der Ferne ihre schon mal vorbereiteten Kommentare aus den Schubladen ziehen.
Der einzige der mitfährt, vor Ort berichtet und auch gleich ein Exklusiv-Interview mit „bad boy“ Orban über dessen m.E. wichtigen Vorstoß liefert, ist Roger Köppel von der Weltwoche.
https://youtu.be/3-KbKJfPM1I?feature=shared
Fred Schumacher
7. Juli 2024 @ 11:46
Solche Formulierungen vernebeln doch nur die Realitäten: „Auf jeden Fall hat Frankreich durch Macrons Harakiri-Wahl schon jetzt spürbar an Einfluß in der EU verloren.“ Kein Land der Welt hat als solches Einfluss oder Macht in Bezug auf irgendetwas. Und zumindest in der westlichen Welt haben auch die Regierungen keine Macht, sondern immer nur diejenigen, welche über das Kapital verfügen und ihren (im Wortsinn) Regierungen die Anweisungen erteilen.
Bei der o.g. Formulierung wird der Anschein erweckt als habe Herr Macron sich für eine Neuwahl entschieden und seine Aussichten dabei falsch eingeschätzt. So ein Quatsch, sorry. Die Großbanken, Blackrock und Konsorten haben entschieden, dass sie jetzt mit ihrem über Jahrzehnte aufgebauten Instrument namens Front National (umbenannt in Rassemblement National) weitermachen wollen.
Und was Le Pen und Co. machen werden – insbesondere bezüglich der Überlebensfrage Krieg oder Frieden – entscheidet wiederum niemand anders als … siehe oben.
ebo
7. Juli 2024 @ 12:45
Sorry, aber in der Politik gibt es mehrere Dimensionen und Ebenen der Macht. Die EU-Ebene ist eine davon. Die national Ebene eine andere.
Natürlich hat sich Macron selbst für eine Neuwahl entschieden – und auch für den idiotischen Termin. Er hätte sich auch für September entscheiden können, was wesentlich besser gewesen wäre.
Und natürlich wird er aber heute Abend eine „Lame duck“ sein, die in Brüssel kaum noch ernst genommen wird. Ob und welche Macht Brüssel hat (und wie legitim sie ist), wäre eine eigene Debatte wert.
Fred Schumacher
7. Juli 2024 @ 14:18
Lieber Eric Bonse,
da haben wir genau den Punkt getroffen, wo wir uns in der Beurteilung grundsätzlich unterscheiden. Ich bin überzeugt, dass solche Leute wie Macron, Scholz usw auf Anweisung handeln. Sie glauben offenbar, sie würden Entscheidungen treffen, mit denen sich die Milliardäre dann abzufinden haben.
Um ein weiteres Beispiel zu nennen: Glauben Sie tatsächlich, die „Zeitenwende“ und der „Wumms“ mit dem Scholz der deutschen Bevölkerung eine selbstmörderische Politik vor den Kopf geknallt hat, hätte der Gehilfe der Banken bei Cumex-Betrugsgeschäften sich selbst ausgedacht? Dass ich nicht lache!
ebo
7. Juli 2024 @ 19:51
Lieber Fred Schumacher, selbst wenn man glaubt, dass Kapitalinteressen dominieren und die „wahre Macht“ irgendwo im Dunkeln liegt, so gibt es doch immer noch einen politischen „Überbau“, der nach eigenen Regeln funktioniert.
So nützt die „Zeitenwende“ sicherlich den Rüstungskonzernen – dennoch glaube ich nicht, dass sie vom Rheinmetall-Chef ausgeheckt oder „angeordnet“ wurde.
Ähnlich die EU: Sie dient zwar grundsätzlich den Interessen transkantionaler konzerne (so wurde sie konzipiert), es gibt sogar immer noch die (verschwiegenen) Gipfel der Industriekapitäne.
Dennoch war es von der Leyen möglich, einen „Green Deal“ zu konzipieren, der offenbar nicht nur den Kapitalinteressen dient – warum sonst müsste er jetzt zum „Green Industrial Deal“ umgemodelt werden!?
Arthur Dent
7. Juli 2024 @ 23:18
@ebo
naja, es gibt schon die „informellen Treffen“ des „Gedankenaustausches“ in Davos oder bei den Bilderberg-Konferenzen, wenn sich ganz unverbindlich hochrangige Leute aus Politik, Wirtschaft, Militär und Geheimdienste treffen.
Der Rheinmetall-Chef mag selbst ein herzensguter Mensch sein, aber als „Klasse“ funktionieren die „Davos-Menschen“ zuverlässig auf eine bestimmte Weise. (Brzezinski und Kissinger waren sicher die großen Vordenker in diesem System).
Titi
7. Juli 2024 @ 11:21
Die Borniertheit der EU-Spitzenvertreter (Motto: „Ja nicht mit dem bitterbösen Putin reden oder ihn gar zuhören „) ist beispiellos.
Michael
6. Juli 2024 @ 14:54
Wie Selenskyj so jetzt auch Borrell: Absolutheiten sollen Verhandlungen vorbeugen und suggerieren die Ukraine werden gewinnen! Hier zeigt sich wie im sog. Westen reines Wunschdenken der eigenen Propaganda zum Opfer gefallen ist! Was mich wirklich erzürnt ist die Vereinnahmung anderer und kritischer Positionen!
exKK
6. Juli 2024 @ 15:15
Wenn Diplomaten ihre Arbeit verweigern, könnte ihnen der Steuerzahler dann nicht ihr Gehalt verweigern?
Helmut Höft
7. Juli 2024 @ 10:47
18.02.1943 „Wollt Ihr den totalen Krieg?“ https://de.wikipedia.org/wiki/Sportpalastrede Spätsommer 1944: „Die Vergeltungswaffen aus Mittelbau Dora bringen den Endsieg!“ https://de.wikipedia.org/wiki/KZ_Mittelbau-Dora#Umbau_der_Stollen_zur_R%C3%BCstungsfabrik
Da wird es Zeit, dass 80 Jahre später ein Ungar Licht in die Umnachtung bringt!
Annon
7. Juli 2024 @ 12:00
In der oldschool phoenix Doku „100 Jahre“ Titelsequenz wird die Frage mit Adenauers „Wir wählen die Freiheit“ kontrastiert.
Der wäre als harter Antikommunist mit seiner Westbindung zwar vermutlich bei den Ukraineidioten (die Entstehungsgeschichte hier zu leugnen/ignorieren finde ich genau so dämlich wie sich zu weigern Masken zu tragen) aber dennoch kommt das automatisch immer wenn ich das von Dir genannte höre oder lese.
Aber vielleicht wäre er auch auf „unserer“ Seite, denn heutzutage hat ja schlicht Niemand mehr in der Deutschen Spitzenpolitik überhaupt ein Nationalgefühl, nationale Identität oder denkt überhaupt dass Deutschland eine Berechtigung hätte seine Interessen zu verteidigen, schon gar nicht gegen die diese seit ihrer Unabhängigkeit herausfordernden Osteuropäer.
Das Scholz erst vor nem Jahr dem Tusk bei den irgend ner Medienveranstaltung als Render in Potsdam sagt er solle sich die Reperationsforderungen mal ganz schnell abschminken bevor hierzulande mal Jemand darauf kommt dies mit unseren Ewigkeitsverlusten an Polen durch die Gebietsverluste Schlesiens, Pommerns und Ostpreußens aufzurechnen, nur um dann jetzt den ersten Schritt zur Aufweichung des eigentlich endgültig abgeschlossenen Kapitels zu gehen mit der Gewährung von „Hilfen“ für die noch lebenden NS Opfer, zeigt erneut ziemlich deutlich woher der Wind weht.