Nach dem Brexit: Die Einheit ist futsch
Sie waren so stolz auf ihre Einheit. Doch nur drei Wochen nach dem Brexit fallen in Brüssel die Masken. Beim EU-Budgetgipfel kämpft jeder für sich, sogar die Benelux-Staaten sind zerstritten.
Es ist das erste Mal, dass die 27 Staats- und Regierungschefs der EU nach dem Brexit zusammenkommen. Endlich reden sie über den neuen Kurs, den sie nach dem britischen Austritt einschlagen wollen.
Doch schon die ersten Wortmeldungen beim Sondergipfel zum EU-Budget machen klar, dass die beim Brexit beschworene Einheit dahin ist.
„Wir sind noch nicht zufrieden“, erklärt Kanzlerin Angela Merkel bei ihrer Ankunft im Brüsseler Ratsgebäude. Unter den Nettozahlern sei “die Balance noch nicht richtig ausgearbeitet“, warnt Merkel.
Es ist ein Seitenhieb auf Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron. Der zeigt sich mit Michels Entwurf zufrieden, denn Frankreich – ein Nettozahler wie Deutschland – kommt dabei recht gut weg.
Aber auch Macron fordert noch Nachbesserungen. Es müsse mehr Geld für die Bauern geben, aber auch für die Rüstung oder das „digitale Europa“.
Doch nicht nur Merkel und Macron liegen über Kreuz. Auch die Benelux-Staaten sind tief zerstritten. Luxemburgs Regierungschef Xavier Bettel gibt sich ausgabenfreudig:
“Wir haben für das Roaming vor ein paar Jahren mehr bezahlt als wir für Europa bezahlen“, sagt er zu Beginn des Treffens, da bis Samstag dauern könnte. Man dürfe nicht an der falschen Stelle sparen, etwa bei der Verwaltung.
Ganz anders klingt es beim Mark Rutte, seinem niederländischen Amtskollegen. “Der Vorschlag ist echt nicht gut“, sagt der liberale Politiker aus Den Haag bei der Ankunft in Brüssel.
Michel wolle zu viel Geld ausgeben und die Nettozahler zu sehr zur Kasse bitten. Der Entwurf sieht ein EU-Budget in Höhe von 1,074 Prozent der Wirtschaftsleistung vor. Rutte will jedoch nur 1,0 Prozent zahlen.
Nettozahler feilschen um 0,074 Prozentpunkte
Man streitet um 0,074 Prozentpunkte – dabei fordert das Europaparlament noch deutlich mehr: 1,3 Prozent. Zwischen diesen Zahlen klafft eine Lücke von rund 300 Milliarden Euro für die kommenden sieben Jahre.
Wie sie überbrückt werden kann – und wofür das Geld ausgegeben werden soll – darum dreht sich der Streit. Zumindest vordergründig.
In Wahrheit geht es aber um die Zukunftsfähigkeit, wenn nicht gar ums Überleben der Union. Mehr „Modernität“ fordert Merkel, was Einschnitte bei den Agrarsubventionen und bei den Strukturhilfen bedeutet.
Mehr „Souveränität“ wünscht sich dagegen Macron, was er auch mit „souveräner Nahrungsmittelversorgung“ übersetzt – also mehr Geld für Bauern und eine „grüne“ Agrarindustrie.
Das Europaparlament hingegen will mehr Geld für den „Green Deal“, den Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen vorgeschlagen hat.
Die Unterscheidung zwischen Nettozahlern, also Gebern, und Empfängern sei überholt, warnt Parlamentspräsident David Sassoli bei der ersten großen Tischrunde am Donnerstagabend.
„Alle Mitglieder profitieren von der EU“, betont Sassoli. Das Problem ist nur, dass die Staats- und Regierungschefs das nicht so sehen wollen. Jeder kämpft für sich, die Einheit ist futsch…
Siehe auch “Die verdrängte Krise” und “Bei diesem Budgetstreit werden alle verlieren”
P.S. Der Gipfel wurde am Freitagabend ergebnislos abgebrochen. Mehr dazu hier
Watchlist
Gelingt doch noch eine Einigung auf ein neues EU-Budget? Ratspräsdent Michel wollte in der Nacht zu Freitag einen neuen Entwurf vorlegen. Danach dürfte sich zeigen, ob sich die tiefen Gräben irgendwie überbrücken lassen. Die letzten Meldungen machten wenig Hoffnung. So berichtete der grüne EU-Abgoerdnete Rasmus Andresen, dass Kanzlerin Merkel eine Plastiksteuer und eine höhere CO2-Bepreisung blockiere…
Laut meinen Informationen blockiert die deutsche Bundesregierung aktuell eine EU Plastiksteuer & höhere CO2 Bepreisung. Beides würde Klima & Umwelt helfen und mehr Klimainvestitionen ermöglichen. Die Blockade der Bundesregierung schadet . #euco #MFF
— Rasmus Andresen 🇪🇺🏳️🌈 (@RasmusAndresen) February 20, 2020
Was fehlt
- Digitalpolitik: EU backtracks on plans to ban facial recognition – Die Lobbyisten waren wohl doch stärker?
- Agrarpolitik I: Farmers descend on Brussels to demand fairer EU subsidies – Der Bauernaufstand geht weiter…
- Agrarpolitik II: Commission wants ‘realistic targets’ for pesticide, fertilisers cuts – Derweil denkt der Handelskommissar darüber nach, die Regeln für Pestizide wieder zu lockern, mehr hier
Peter Nemschak
21. Februar 2020 @ 09:58
Die Nettozahlerbetrachtung ist zwar menschlich verständlich – jeder will für sein Steuergeld möglichst mehr zurückbekommen als er eingezahlt hat – aber irreführend. Das Geld das die Nettozahler an die Nettoempfänger geben, wird von diesen zum erheblichen Teil wieder bei den Nettozahlern ausgegeben. Außerdem haben auch die Nettozahler ein Interesse an Leistungen der EU, von denen alle auch sie selbst profitieren, Beispiel: Außengrenzensicherung. Statt emotionaler Reaktionen wäre nüchternes strategisches Denken sinnvoller. Gemeinsamer Vorteil hat auch positive Rückwirkungen für den Eigennutz der Staaten und ihrer Bürger.
ebo
21. Februar 2020 @ 10:04
Volle Zustimmung! Dies gilt vor allem für Deutschland, das von Binnenmarkt und Euro mehr profitiert als jedes andere Land
Holly01
21. Februar 2020 @ 12:42
… wäre schon ok, wenn, ja wenn, das keine Umverteilung wäre.
Die Kosten tragen die 80%.
Die Vorteile haben die 20%.
” https://www.brookings.edu/blog/future-development/2020/01/16/who-gained-from-global-growth-last-decade-and-who-will-benefit-by-2030/ ”
Nach den USA den höchsten Zugewinn.
Ich verstehe ja, dass die 20% die Party gut finden. Ich verstehe auch das Amokläufe zwar schrecklich sind, aber als Preis der Party unvermeidlich, hingenommen werden.
Ja natürlich. Amokläufe gibt es nur da wo Ungleichheit mit den üblichen Ausreden abgewälzt wird und die Hirntoten darauf reinfallen und durch drehen.
Strukturell finden das aber dann nicht alle gut … um das im höflichen Stil zu beantworten.
Wenn die 0,1% umverteilen wollen, dann von ihrem Geld, nicht über das Steuersystem, das nur die 80% ausbeutet, bitte, danke.
vlg
Peter Nemschak
22. Februar 2020 @ 09:23
Brejvik ist ein Gegenbeispiel in einem Land wie Norwegen, wo der Wohlstand gleichmäßig verteilt ist. Auch Schweden hat mit Terror immer wieder Erfahrung gemacht. An der Verteilung wird es nicht liegen, wohl aber an einer stark individualisierten und entwurzelten Gesellschaft, wo die Bindungskraft lokaler Gemeinschaften nicht mehr besteht.
Holly01
22. Februar 2020 @ 12:20
Ist das nicht erstaunlich?
Ausweise bleiben ebenso liegen wie Geldbörsen.
Übungen zeitgleich und mit dem selben Szenario wie der Anschlag.
Täter die noch erstaunter sind, als die Polizei, die die aber seit Monaten überwacht und (erstaunlich) kurz vor der Tat aus der Überwachung genommen haben?
Amnesie bei den Ermittlern und plötzlicher Aktenverlust bei den Behörden.
…. und immer fertige Gesetze aus der Schublade die während der allgemeinen Empörung durch gewunken werden.
Bindungskraft, schönes Wort.
Es gibt 2 Gesellschaften, die 20% und die 80%. Die Täter kommen gerne aus dem Grenzbereich. Einerseits isoliert von der Masse und andererseits nicht die Vorteile der upper class, wie deprimierend.
Staatlich betreute Täter und Feierabend Täter, die in einem System der menschlichen Verachtung jede Empathie (die Fähigkeit so zu tun, als würde man Mitgefühl haben) verloren haben.
H4? Opfer und Täter auf beiden Seiten der Schreibtische.
Polizei? Opfer und Täter auf beiden Seiten des Schlagstocks.
Banken? Opfer und Täter auf beiden Seiten des Schalters.
Das System produziert dutzende Bruchkanten. Bruchkanten an denen Leute sitzen, die fest denken sie hätten mehr verdient, sollten zur upper class gehören. Schade, die haben Einsicht und gehören nicht dazu, sind aber permanent vom Abstieg bedroht.
… es gibt Dinge die tut man nicht, weil die nicht tragen und sich am Ende gegen die Täter wenden.
Ja, führt Euren Sozialkrieg mal ruhig weiter, die Zahl der Amokläufer ist proportional zur Ausgrenzung und dem Druck an den Reibepunkten.
In Schland haben wir wohl den point of no return überschritten.
Warum no return?
“ https://braveneweurope.com/thomas-piketty-the-current-economic-system-is-not-working-when-it-comes-to-solving-inequality “
Der gehört doch zu Euch oder?
vlg